Meine Großeltern wurden in Deutschland geboren. Sie kamen aus religiös-bürgerlichen Familien. Nachdem sie vor den Nazis fliehen mussten und sich in Israel niedergelassen hatten, wurden sie säkular. Die Traditionen der alten Welt waren verloren gegangen oder wurden irgendwie neu erfunden.
Wenn man als säkulare Jüdin nach Deutschland einwandert, befasst man sich zwangsläufig mit seiner eigenen Haltung zur Religion – gerade zu den Feiertagen. Mir war klar: Nach Israel zu fahren, ist zu teuer, und meine Familie in Israel nutzt die freien Tage sowieso, um selbst ins Ausland zu fahren. Gar nichts zu den Feiertagen zu tun, ist aber auch doof, und ein ganz traditioneller Seder ist – ganz offen – nicht mein Ding. Was also tun?
Gemütlichkeit Israelische Freunde fragten mich, ob ich nicht einen coolen Ort kennen würde, an dem wir zusammen einen mehr oder weniger säkularen Seder machen könnten. Eine kleine, übersichtliche Feier mit nur acht Leuten.
Wir hatten immer ein entspanntes Pessach, waren eingeladen oder verreist.
Klar, kein Problem. Wie naiv von mir. Sie müssen dazu wissen, dass wir früher mit der Familie immer verreist sind, wenn sich die Pessachtage ankündigten. An Erew Pessach zu fliegen, war, das werden Ihnen die meisten Israelis bestätigen, einfach am billigsten. Also hatten wir nie irgendeine riesige Pessach-Organisation zu bewerkstelligen. Zwei meiner Geschwister haben kurz vor dem Fest der Freiheit geheiratet. Kochen mussten wir also auch nicht, weil wir die Reste des Büffets aufessen konnten. Und wenn wir doch mal im Lande waren, dann wurden wir von anderen Familien zum Seder eingeladen.
Aber klar: Acht Leute zum Seder? Nichts leichter als das. Pustekuchen! Hätte mir doch vorher mal jemand verraten, wie aufwendig es ist, einen Seder zu halten. Mittlerweile war die Gästeliste auf zwölf Leute angewachsen. Das bedeutete: Tische und Stühle besorgen, Platzschilder beschriften, eine Haggada auf Hebräisch und Englisch finden und – natürlich – den Sederteller bestücken.
Gäste Das Gerücht, dass bei mir ein liberalerer, vielleicht nicht streng koscherer Seder stattfinden würde, verbreitete sich schnell. Die Gästeliste wuchs und wuchs. Ich konnte doch nicht einfach so Nein sagen: Es ist schließlich eine Mizwa, so ein Abend, und ich bin schließlich eine gute Jüdin, hier in Berlin. Also: Je mehr, desto besser.
Jetzt allerdings wurde es ernst: Ich holte mir Hilfe bei einer befreundeten Innenarchitektin, die in meinem Wohnzimmer 18 Leute so geschickt platzieren sollte, dass es auch noch halbwegs gut aussah.
Mizwa Auch meine nichtjüdischen Freunde hatten von meiner kleinen Soirée Wind bekommen und waren neugierig auf diesen »Seder«. Ich dachte an die Mizwa und beschloss: Wo zwölf und 18 Leute Platz haben, können auch 22 Menschen sitzen.
Ich rief die Mütter von Freunden an, um nach Rezepten zu fragen.
Nur: Was sollte ich kochen? In meiner Not rief ich die Mütter meiner Freunde an und entlockte ihnen ihre leckersten Rezepte. Ich entschied mit unter anderem für Chraime (Fisch in einer scharfen, marokkanischen Soße), Mazzebällchen und vier unterschiedliche Arten von Charosset.
Am Sederabend blieb uns dann nicht anderes übrig, als schließlich für 26 Gäste in meinem Wohnzimmer Platz zu finden – wenigstens hatten vier von ihnen ihre eigenen Stühle mitgebracht. Die Welt zu Gast in meinem Wohnzimmer: Leute aus Israel, Deutschland, den USA, Großbritannien, Brasilien, der Türkei und Syrien.
WhatsApp Alles wurden vorher von mir mit Pessach-Infos versorgt: In einer WhatsApp-Gruppe erklärte ich die Dos and Don’ts, sagte den Leuten, was sie mitbringen sollten, und war fast stolz auf mich, dass sogar ich etwas Tradition weitergegeben hatte.
Ich weiß ja nicht, ob es an meinen Erklärungen lag oder ob einige ihre WhatsApp-Gruppen bei der gefühlt 100. Wortmeldung auf stumm geschaltet hatten, jedenfalls hatte das Büffet alles zu bieten, was definitiv nicht zu Pessach gehört: von Bier über Challe bis zu einem Gericht mit Schweinefleisch.
Wo zwölf und 18 Leute sitzen, finden auch 22 einen Platz.
Haggada Wie es sich für eine gute Jüdin gehört, wollte ich natürlich keinen meiner Gäste vergraulen, und so saßen wir dann zusammen, lasen die Haggada und erzählten die Geschichte unserer Leute anderen Leuten.
Jeder sprach darüber, was Freiheit für ihn bedeutete. Für meine syrischen Gäste war es, in Berlin zu sein, fern vom Krieg. Für einige andere, mal offline zu sein. Und für mich? Nun, für mich war es das erste Pessach, das unsere Familie seit 1936 in Berlin feierte.
Le Chaim, also, auf neue Traditionen und Chag Sameach!