Herr Keret, Nobelpreisträger wie Abdulrazak Gurnah und Annie Ernaux sprechen vom »Genozid« in Gaza und fordern einen Boykott israelischer Verlage, die »sich an der Unterdrückung der Palästinenser mitschuldig machen«. Welchen Eindruck haben Sie von dem jüngsten Offenen Brief von Autoren – angeblich der »bisher größte kulturelle Boykott gegen Israel«?
Ich bin sicher, dass dieser Brief konkrete Auswirkungen haben wird. In Literatur wird nicht viel Geld investiert, und deshalb werden sich manche sicherlich überlegen, ob sie ein Buch veröffentlichen, das boykottiert wird. In Israel gibt es übrigens ähnliche Bestrebungen gegen Auftritte von Schriftstellern, etwa in Kulturzentren – allerdings von rechtsextremer Seite.
Von Schriftstellern wird oft und vielleicht naiverweise angenommen, sie seien weltoffen. Was motiviert Autoren, gegen andere Autoren vorzugehen?
Ich glaube nicht, dass Schriftsteller per se weltoffen sind. Der Offene Brief ruft nicht zum Boykott von Waffenhändlern auf, sondern von Schriftstellern und Akademikern – Menschen, die ihre Stimme gegen die Besatzung und gegen den Krieg erheben. Ich setze mich schon mein halbes Leben für einen palästinensischen Staat ein. Von Schriftstellern sollte man Visionen und abstraktes Denken erwarten. Warum ausgerechnet Künstler boykottieren? Wenn ich Bilder aus Gaza sehe, macht es mich fertig. Ich lehne es ab, Zivilisten leiden zu lassen. Dieser Offene Brief spricht eine drakonische Sprache, es geht um mehr als einen palästinensischen Staat. Es klingt fast nach Rache für die Gründung Israels 1948.
Das Motiv ist Rache?
Ich glaube, dass dieser Brief aus sehr emotionalen Gründen geschrieben wurde. Ich kann mir sogar vorstellen, dass die Autoren aus Empathie mit den Palästinensern heraus handeln. Aber sie verstehen die Komplexität der Situation nicht. Wollen sie, dass Israelis nicht lesen, was sie geschrieben haben? Wollen sie nichts aus Israel lesen? Das ist schade, weil sie nicht mitbekommen, welche liberalen Stimmen es in Israel gibt. Schwarze Listen sind barbarisch. Das gab es bei den Nazis, Stalin und Mao. Es hat nichts mit Kultur zu tun, jemandem nicht mehr zuzuhören, nur weil er Jude, Russe oder irgendetwas anderes ist.
Wie sehen Sie Ihre Aufgabe als Autor?
Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern ist vor allem durch einseitige Empathie gekennzeichnet. Am 7. Oktober 2023 gab es das grausame Massaker der Hamas, einer radikal-islamischen Terrororganisation, aber viele Menschen haben nicht verstanden, dass es auch andere Palästinenser gibt. Meine Aufgabe als Künstler ist es, Menschen zu verwirren und ihnen zu zeigen, wie komplex die Realität ist. Das wird jedoch schwieriger, weil die Leute immer weniger zuhören.
Lesen Sie Bücher von Schriftstellern, die Israelis boykottieren?
Meine Eltern waren Schoa-Überlebende. Richard Wagner war ihr Lieblingskomponist. Eines Tages hörten wir zu Hause Wagner. Eine Nachbarin sagte zu meiner Mutter: »Frau Keret, die Nazis haben diese Musik geliebt.« Meine Mutter antwortete: »Die Nazis liebten auch Apfelstrudel. Soll ich deswegen keinen mehr essen?« Es gibt viele Künstler, die in ihrem Werk sehr sensibel sind, aber nicht in ihrem eigenen Leben. Ich lese auch gerne T.S. Eliot und Ezra Pound, obwohl beide Antisemiten waren. Das heißt nicht, dass ich sie zur Barmizwa meines Sohnes einladen würde.
Mit dem israelischen Autor sprach Ayala Goldmann. Etgar Keret trat am 3. November in München bei einer Veranstaltungsreihe der Münchner Kammerspiele und des Instituts für Neue Soziale Plastik auf.