Da ist dieses Foto in Schwarz-Weiß. Darauf zu sehen ist eine junge Frau, vielleicht um die 30 Jahre alt. Sie könnte auch ein wenig älter sein. Es ist schwer zu deuten, wie alt die Frau damals tatsächlich war. Überhaupt wirkten die Menschen früher auf Fotografien immer viel älter. Lag das an der Mode, an den schweren Stoffen, die sie damals trugen? Oder an der Körperhaltung, die jeweils für denjenigen, der das Bild einfing, mehr oder weniger gekonnt inszeniert wurde?
An diesem Bild ist nichts gestellt. Der Kopf ist zu nah aufgenommen, etwas groß im Verhältnis zum Bild und zu sehr nach rechts gedreht, das Porträt ist nicht perfekt. Die junge Frau, die ihr tiefschwarzes Haar kurzgeschnitten und trotzdem sehr voluminös trägt, schaut aus dem Bild heraus. Als würde sie mit jemandem sprechen, der rechts von ihr steht. Wobei: Sie spricht viel mehr mit ihrem Blick als mit dem Mund, den sie geschlossen hat. Vielleicht ist es auch nur ein Lächeln oder gar ein kleiner Flirt, den sie unbemerkt mit jemandem teilt. Die Lippen haben eine scharfe Kontur, sie sind dunkel. Es muss ein tiefroter Lippenstift gewesen sein.
Die satten Farben des Lebens weichen auf alten Fotos jeweils nur einer grauen Durchschnittspalette, die die Vergangenheit im Augenblick der Aufnahme erblassen lässt. Wo sind all die Farben von früher geblieben? Beim Entwickeln in der Dunkelkammer verloren gegangen? Ich höre das Kind in mir, das beim Anblick alter Aufnahmen dachte, früher sei die Welt schwarz-weiß gewesen. Schwarz die Haare, weiß die Bluse. Schwarz der Mund, weiß der Hintergrund. Schwarz die Augen, weiß das Sklera ihrer Augen, die sie vom Fotografen aus irgendeinem Grund abwendet.
Vielleicht war es gar kein Flirt, sondern die Frau war nur für einen kleinen Augenblick abgelenkt.
Vielleicht war es gar kein Flirt, sondern die Frau war nur für einen kleinen Augenblick abgelenkt, und der Fotograf hatte zu schnell abgedrückt? Das Bild ist nicht gestochen scharf. Vielleicht gehört es in die Serie der unbrauchbaren Fotos. Wurden früher nicht alle Bilder entwickelt und einem dann zusammen mit den guten mitgegeben?
So landete die Aufnahme vermutlich in einer Schachtel der vergessenen Bilder. Zusammen mit all den anderen ausrangierten, von denen man sich trotzdem nie trennte. Ganz unvorstellbar, wo wir heute gleich auf »Löschen« drücken, wenn uns das Selfie nicht passt. Offensichtlich gab es früher kein Entkommen. Festgehalten war nicht nur das fotografierte Objekt, sondern mit ihm mutierte auch die Zeit zur Unvergänglichkeit.
Vor wenigen Tagen fiel mir meine alte Pentax-Kamera in die Hände, inklusive eines Schwarz-Weiß-Films darin. Ich weiß nicht, wie viele Jahre dieser Film schon in der Kamera lag. Ich ging zum Fotofachgeschäft, in das eine, das es noch gibt, und ließ den Film entwickeln. Noch immer warte ich darauf, zu sehen, wie vergessene Stationen meines Lebens mit Licht und Grauton konturiert wurden.
Was früher normal war, ist heute zu einem dieser seltenen Momente geworden, die kurz zum Innehalten zwingen. Ich erinnere mich nicht, was ich alles fotografiert habe, aber ich weiß mit Sicherheit, dass damit Vergängliches konserviert wurde, genauso wie die Schönheit meiner Großmutter auf dem undatierten Schwarz-Weiß-Bild.