Liebe

Schwarz-weiße Momente

Foto: privat

Liebe

Schwarz-weiße Momente

Worauf es im Leben wirklich ankommt - und was für immer bleiben wird

von Nicole Dreyfus  10.06.2024 13:16 Uhr

Da ist dieses Foto in Schwarz-Weiß. Darauf zu sehen ist eine junge Frau, vielleicht um die 30 Jahre alt. Sie könnte auch ein wenig älter sein. Es ist schwer zu deuten, wie alt die Frau damals tatsächlich war. Überhaupt wirkten die Menschen früher auf Fotografien immer viel älter. Lag das an der Mode, an den schweren Stoffen, die sie damals trugen? Oder an der Körperhaltung, die jeweils für denjenigen, der das Bild einfing, mehr oder weniger gekonnt inszeniert wurde?

An diesem Bild ist nichts gestellt. Der Kopf ist zu nah aufgenommen, etwas groß im Verhältnis zum Bild und zu sehr nach rechts gedreht, das Porträt ist nicht perfekt. Die junge Frau, die ihr tiefschwarzes Haar kurzgeschnitten und trotzdem sehr voluminös trägt, schaut aus dem Bild heraus. Als würde sie mit jemandem sprechen, der rechts von ihr steht. Wobei: Sie spricht viel mehr mit ihrem Blick als mit dem Mund, den sie geschlossen hat. Vielleicht ist es auch nur ein Lächeln oder gar ein kleiner Flirt, den sie unbemerkt mit jemandem teilt. Die Lippen haben eine scharfe Kontur, sie sind dunkel. Es muss ein tiefroter Lippenstift gewesen sein.

Die satten Farben des Lebens weichen auf alten Fotos jeweils nur einer grauen Durchschnittspalette, die die Vergangenheit im Augenblick der Aufnahme erblassen lässt. Wo sind all die Farben von früher geblieben? Beim Entwickeln in der Dunkelkammer verloren gegangen? Ich höre das Kind in mir, das beim Anblick alter Aufnahmen dachte, früher sei die Welt schwarz-weiß gewesen. Schwarz die Haare, weiß die Bluse. Schwarz der Mund, weiß der Hintergrund. Schwarz die Augen, weiß das Sklera ihrer Augen, die sie vom Fotografen aus irgendeinem Grund abwendet.

Vielleicht war es gar kein Flirt, sondern die Frau war nur für einen kleinen Augenblick abgelenkt.

Vielleicht war es gar kein Flirt, sondern die Frau war nur für einen kleinen Augenblick abgelenkt, und der Fotograf hatte zu schnell abgedrückt? Das Bild ist nicht gestochen scharf. Vielleicht gehört es in die Serie der unbrauchbaren Fotos. Wurden früher nicht alle Bilder entwickelt und einem dann zusammen mit den guten mitgegeben?

So landete die Aufnahme vermutlich in einer Schachtel der vergessenen Bilder. Zusammen mit all den anderen ausrangierten, von denen man sich trotzdem nie trennte. Ganz unvorstellbar, wo wir heute gleich auf »Löschen« drücken, wenn uns das Selfie nicht passt. Offensichtlich gab es früher kein Entkommen. Festgehalten war nicht nur das fotografierte Objekt, sondern mit ihm mutierte auch die Zeit zur Unvergänglichkeit.

Vor wenigen Tagen fiel mir meine alte Pentax-Kamera in die Hände, inklusive eines Schwarz-Weiß-Films darin. Ich weiß nicht, wie viele Jahre dieser Film schon in der Kamera lag. Ich ging zum Fotofachgeschäft, in das eine, das es noch gibt, und ließ den Film entwickeln. Noch immer warte ich darauf, zu sehen, wie vergessene Stationen meines Lebens mit Licht und Grauton konturiert wurden.

Was früher normal war, ist heute zu einem dieser seltenen Momente geworden, die kurz zum Innehalten zwingen. Ich erinnere mich nicht, was ich alles fotografiert habe, aber ich weiß mit Sicherheit, dass damit Vergängliches konserviert wurde, genauso wie die Schönheit meiner Großmutter auf dem undatierten Schwarz-Weiß-Bild.

Aufgegabelt

Mazze-Sandwich-Eis

Rezepte und Leckeres

 18.04.2025

Pro & Contra

Ist ein Handyverbot der richtige Weg?

Tel Aviv verbannt Smartphones aus den Grundschulen. Eine gute Entscheidung? Zwei Meinungen zur Debatte

von Sabine Brandes, Sima Purits  18.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  18.04.2025

Kulturkolumne

Als Maulwurf gegen die Rechthaberitis

Von meinen Pessach-Oster-Vorsätzen

von Maria Ossowski  18.04.2025

Meinung

Der verklärte Blick der Deutschen auf Israel

Hierzulande blenden viele Israels Vielfalt und seine Probleme gezielt aus. Das zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um die Rede Omri Boehms in Buchenwald

von Zeev Avrahami  18.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  17.04.2025

Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Zum Gedenken an die Befreiung des Lagers Sachsenhausen werden noch sechs Überlebende erwartet. Was das für die Erinnerungsarbeit der Zukunft bedeutet

 17.04.2025

Bericht zur Pressefreiheit

Jüdischer Journalisten-Verband kritisiert Reporter ohne Grenzen

Die Reporter ohne Grenzen hatten einen verengten Meinungskorridor bei der Nahost-Berichterstattung in Deutschland beklagt. Daran gibt es nun scharfe Kritik

 17.04.2025

Interview

»Die ganze Bandbreite«

Programmdirektorin Lea Wohl von Haselberg über das Jüdische Filmfestival Berlin Brandenburg und israelisches Kino nach dem 7. Oktober

von Nicole Dreyfus  16.04.2025