Ambivalenzen, Widersprüche und Mythen sind typisch für die Stadt. Berichten zufolge soll der russische Dichter Alexander Puschkin einst über Odessa gesagt haben, dass sich Europa dort bereits riechen ließe. Anderen Überlieferungen zufolge sprach er davon, dass man in der Hafenstadt am Schwarzen Meer Europa atmen könnte.
Bekanntermaßen liegen zwischen »riechen« und »atmen« Welten. Aber das macht nichts. Schließlich ist es mit der Wahrheit über Odessa schon immer so eine Sache gewesen, wie Charles King, Professor für internationale Politik an der Georgetown University in Washington, in seinem opulenten Buch über die Historie der Stadt schreibt.
massaker Beispielhaft dafür ist die berühmte Kinderwagenszene aus dem Revolutionsklassiker Panzerkreuzer Potemkin von Sergej Eisenstein, die auf der wunderschönen Treppe vor Odessas Hafen gedreht wurde und im Jahr 1905 spielt. Es hat sie in Wirklichkeit ebenso wenig gegeben wie das dort in Szene gesetzte Massaker der zaristischen Soldateska.
Mit der Wahrheit über Odessa ist es schon immer so eine Sache gewesen.
Das fand woanders statt und war nichts anderes als ein handfestes Pogrom. »In Eisensteins Nacherzählung trat das blutige Ereignis des Jahres 1905 – die Ermordung Hunderter von Juden – in den Hintergrund«, schreibt King. »Durch den Film wurde Odessa, wo Juden auf offener Straße ermordet worden waren, zu einer Stadt der Arbeitersolidarität und des Widerstands gegen die zaristische Willkürherrschaft. Es war, vorsichtig ausgedrückt, ein heroischer Akt der Verdrängung.«
Wandel Doch der Film wurde ein Welterfolg und trug mit dazu bei, dass Odessa im historischen Gedächtnis zu einem Ort der Avantgarde des revolutionären Wandels mutierte, der mit der Realität aber nichts gemein hatte. Ein anderer, der großen Anteil an der Schaffung eines Mythos über die Stadt haben sollte, war der dort geborene Schriftsteller Isaac Babel mit seinen Geschichten aus Odessa. »Das Buch ist eine fesselnde Beschwörung der Gauner, Intriganten, Prostituierten und korrupten Polizisten der jüdischen Moldawanka, eine großartige Darstellung der Kavaliere der kriminellen Unterwelt.« Doch zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung war dieser Kosmos an Figuren bereits verschwunden.
All das scheint symptomatisch für eine Stadt, deren Gebiet von José de Ribas, einem katalanisch-neapolitanischen Söldner in russischen Diensten, erobert und auf Befehl der aus Deutschland stammenden Zarin Katharina gegründet wurde, woraufhin zwei exilierte französische Adelige sie erbauten und ein in Großbritannien sozialisierter russischer Graf Odessa schließlich zu Russlands wichtigstem Hafen am Schwarzen Meer machte.
Und so richtig russisch war sie lange Zeit auch nicht wirklich. Denn ihre Bevölkerung bestand zu großen Teilen aus Italienern, Deutschen, Armeniern sowie Juden, Polen, Ukrainern und Griechen. Die Stadt war neu und so etwas wie das New York des Zarenreichs, immer im Umbruch und ein Magnet für Menschen aus allen möglichen Himmelsrichtungen. Petersburg lag weit weg, was einige Freiräume ermöglichte, die es anderswo nicht gab.
»Odessa hatte keine Tradition, aber deshalb auch keine Angst vor neuen Formen des Lebens und Handelns«, zitiert King einen anderen berühmten Sohn der Stadt, und zwar Wladimir Jabotinsky, in seinem späteren Leben Begründer des revisionistischen Flügels der zionistischen Bewegung. »Es entwickelte in uns mehr Temperament und weniger Leidenschaft, mehr Zynismus, aber weniger Bitterkeit.«
Doch trotz des rasanten Aufstiegs in wenigen Jahrzehnten zu einem der wichtigsten urbanen Zentren Russlands und der Vielzahl von Persönlichkeiten, die die Stadt hervorgebracht hatte, war Odessa selten eine kosmopolitische Idylle, sodass jegliche Form von Nostalgie, wie sie ihre Einwohner manchmal nach außen tragen, fehl am Platze ist.
Schicksal Das zeigt sich immer wieder am wechselvollen Schicksal der Juden, die in Odessa gelebt haben und in manchen Zeiten ein Drittel der Bevölkerung repräsentierten, weshalb ihre Geschichte in dem Buch einen ganz zentralen Platz einnimmt. So lieferten die in Odessa zu beobachtenden antijüdischen Ausschreitungen des frühen 20. Jahrhunderts die Blaupause für das, was später unter dem Begriff »Pogrom« bekannt werden sollte.
»Nicht die Gewalt war neu, sondern die Tatsache, dass der Staat ihr zustimmte, sie oftmals sogar förderte und belohnte«, so Kings Einschätzung. Hinzu kamen demografische Veränderungen. Der massive Zuzug von Bauern aus anderen Teilen Russlands sorgte dafür, dass der bis dahin in Odessa wenig bekannte, religiös inspirierte Antisemitismus eine Konjunktur erlebte.
Die Stadt war neu und so etwas wie das New York des Zarenreichs.
Ein Schwerpunkt des Buches ist ferner die Zeit der rumänischen Okkupation in den Jahren zwischen 1941 und 1944, die ein ganz besonderes Kapitel darstellt. Denn neben Leningrad, Sewastopol und Stalingrad sollte Odessa die vierte Stadt sein, die noch während des Zweiten Weltkriegs den Ehrentitel »Heldenstadt« verliehen bekam – eine Auszeichnung, die sie eigentlich kaum verdient hätte.
einwohner Während die meisten ihrer nichtjüdischen Einwohner sich irgendwie mit der Herrschaft der Rumänen arrangiert hatten, was dazu führte, dass man bis in die 50er-Jahre hinein noch von dem rumänischen Bürgermeister schwärmte, wurden die in Odessa verbliebenen oder gestrandeten Juden systematisch ermordet, sodass bei der Befreiung durch die Rote Armee nur noch 48 von der einstmals stolzen Gemeinschaft am Leben waren.
»Der Erste Weltkrieg, der Stalinismus, die Bombardierungen, die Besatzung und die Auslöschung des Judentums verschwanden hinter dem Schleier einer romantisierenden Erinnerung und selektiven Vergessens«, so das Fazit von King. Auch deshalb endet dieses faszinierende Buch nicht mit einer Beschreibung über das Odessa der Gegenwart, sondern einer Schilderung des Lebens in Brighton Beach auf Coney Island in New York, wohin es in den 70er- und 80er-Jahren viele Juden aus der Sowjetunion verschlagen hatte. »Und in Brighton Beach kann man Odessa riechen.«
Charles King: »Odessa – Leben und Tod in einer Stadt der Träume«. Edition Tiamat, Berlin 2023, 390 S., 32 €