»Seit dem 7. Oktober ist alles anders«, sagt die Leiterin der Murnau-Stiftung in Wiesbaden, Christiane von Wahlert. »Da helfen zwei Dinge: Polizeischutz. Den haben wir. Das Zweite ist Begegnung. Deswegen sind wir hier.« Und das ist erst der Anfang des Filmseminars Wenn das Kino Schuld auf sich lädt. Schuldverstrickungen im Film, zu dem die Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden in Deutschland und die Murnau-Stiftung eingeladen haben.
Sieben Filme stehen auf dem Programm und Grundsatz-Diskussionen über Themen wie Verantwortung und Rache. Mehr als 70 Teilnehmer sind gekommen, aus ganz Deutschland, Juden und Nichtjuden. Viele ältere Herrschaften, aber auch Studierende.
Gerade hat man sich nach der Begrüßung durch Seminarleiter Doron Kiesel, wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung, in den Kinosessel gefläzt, da legt Co-Leiterin Lea Wohl von Haselberg von der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf schon los und nimmt den Schuldbegriff auseinander, als säßen wir im Oberseminar. Lektürehinweise inbegriffen. Das Kino als »Ort des imaginären Probehandelns«. Deutung der Wirklichkeit. »Das Kino thematisiert Schuld nicht nur, das Kino selbst war nie unschuldig.« Diskrepanz von Recht und Gerechtigkeit. Es hagelt Filmbeispiele. Die alte Dame neben mir lächelt. Und das alles ohne Kaffee.
»Chronik eines Mordes« von 1961
Der erste Film ist eine Überraschung: Chronik eines Mordes von 1961. Eine Schoa-Überlebende erschießt im Wirtschaftswunder-Deutschland den Mann, der ihre Eltern hat ermorden lassen und gerade zum Bürgermeister gewählt wurde. Die Tat soll seine Schuld publik machen, die alle zu verdecken suchen.
Es ist ein Sittenbild der Bundesrepublik vor der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Eichmann-Prozess, gezeichnet in der DDR, das trotz Schwarz-Weiß modern wirkt. Ralph Giordano nannte die Verdrängung die zweite Schuld der Deutschen. Der große Frieden mit den Tätern habe den Verlust der humanistischen Orientierung bedeutet, sagt Wohl von Haselberg. Auch wenn die DDR sich von der zweiten Schuld selbst ausgenommen habe, biete dieser Film doch eine in weiten Teilen treffende Diagnose der deutschen Gesellschaft, so die Filmwissenschaftlerin.
Die Diskussion geht sofort ins Detail, und die Aufgewühltheit ob der aktuellen Lage ist zu spüren.
Die Diskussion geht sofort ins Detail, und die Aufgewühltheit ob der aktuellen Lage ist zu spüren: »Die Kontinuität besteht bis heute«, sagt ein älterer Herr. »Ist das noch ein Platz, an dem man gut weiterleben kann?«
Der zweite Film reißt das Publikum in die Gegenwart. Es ist Styx von 2018, in dem eine Soloseglerin auf offener See auf ein havariertes Flüchtlingsboot trifft. Es hat mehr Menschen an Bord, als sie aufnehmen könne, denkt sie. Ihre Funksprüche gehen ins Nichts, angekündigte Hilfe kommt nicht. Schließlich springt ein Junge ins Meer, und sie kann ihn gerade noch retten. Doch gerettet fühlt er sich nicht.
Es ist ein Vorschlaghammer, der ins eigene Kontor trifft angesichts der überbordenden Schuld der sogenannten Erste-Welt-Länder, deren Wohlstand auf Ausbeutung beruht, die sich bis heute fortsetzt. Styx verweist immer wieder auf Darwins Survival of the Fittest und kreidet systemische Schuld an. Das ist die Schuld von heute, keine Distanz durch den Blick zurück. »Wir machen uns mitschuldig«, sagt Referentin Saskia Benter Ortega. Das hört niemand gern.
Den Abend beschließt ein philosophisches Feuerwerk, eine akademische Vorlesung über Schuld und Verantwortung, von Andreas Lob-Hüdepohl, der auch Mitglied des deutschen Ethikrats ist. Wir rasen durch Philosophie und Theologie, er erklärt, dass Schuld immer auch Freiheit bedeute, heiße es doch, dass man sich hätte anders entscheiden können. Dann geht es auch schon weiter zur psychologischen Schuld, dem Schuldeinreden als Machtinstrument, Schuld als Sünde und der Warnung vor dem heimlichen Unschuldswahn, wenn Menschen sich mit aller Macht zu »entschuldigen« versuchen. Der perfekte Nährboden für Verschwörungstheorien, die ja ein »Wir können nicht anders« bieten, sagt er.
Die moralphilosophische Tour de Force ist zutiefst beeindruckend. Denn nicht nur ist es schon zehn Uhr abends, es gab auch guten Hummus zum Abendessen, und trotzdem scheinen alle konzentriert.
»Final Account« von Luke Holland
Der nächste Morgen beginnt mit »hartem Tobak«, wie Wohl von Haselberg es nennt. Final Account ist ein Dokumentarfilm des britischen Regisseurs Luke Holland. Es sind im wörtlichen Sinne unglaubliche Interviews mit Nazi-Tätern. Mit SS-Männern, KZ-Wächtern, Mitläuferinnen und Mitläufern, die immer wieder ein grausiges Lächeln zulassen, wenn sie sich an »ihre Jugend« erinnern.
Holland hat mit 274 Männern und Frauen gesprochen, die zwischen 1905 und 1935 geboren wurden. Es ist ein einzigartiges Dokument der Schuld-Dynamik, anhand dessen sich alles studieren lässt, wovon der Dozent Lob-Hüdepohl am Vorabend gesprochen hat. Immer wieder wird klar, dass natürlich alle wussten, was vor sich ging. Das geht bis zu der Aussage: »Wenn ich das zugebe, beschmutze ich mich ja selbst.«
Es bleibt still, als der Abspann läuft. Auch Wohl von Haselberg scheint sich erst sammeln zu müssen. Dann sind wir bei der »Gefühlserbschaft«. Die Psychose der Leugnung sei der beste Beweis für den Tatbestand.
Schuld bedeutet auch Freiheit, weil man sich anders hätte entscheiden können.
Und auch einen schuldigen Film zeigt das Seminar. Die Murnau-Stiftung verwaltet ein Großteil des deutschen Filmerbes, darunter sogenannte Vorbehaltsfilme, Nazi-Propaganda, die nicht ohne Kontextualisierung gezeigt werden dürfen. Ich klage an ist ein Machwerk, das 1941 in die Kinos kam, um das Euthanasie-Programm des NS-Regimes anzupreisen, das nicht so gut ankam wie erhofft, erklärt Christiane von Wahlert.
Dass die staatlich verordnete Tötung von Menschen mit Behinderung schließlich offiziell gestoppt wurde, zeige, dass die Bevölkerung sehr wohl Einfluss nehmen konnte, es bei anderen Verbrechen aber offensichtlich nicht wollte, stellt Wohl von Haselberg fest. Da ist sie wieder, die Frage nach Freiheit und Handlungsmöglichkeit, die zur Schuld führen.
Das diskussionsfreudige Publikum, unter den Teilnehmern viele Experten, sah an diesem Tag auch noch Stadt ohne Mitleid von 1960 und Terry Gilliams König der Fischer von 1991. Das eine ein Gerichtsdrama mit Kirk Douglas über Sensationslust und Doppelmoral in einer deutschen Kleinstadt. Das andere ein Hollywood-Klassiker, in dem der unvergessliche Robin Williams einen nach dem Mord an seiner Frau verrückt und obdachlos gewordenen Mann spielt, den der Anstifter des Anschlags um Verzeihung bittet. Wie verzeiht man, fragte nach dem Film der Theologe Joachim Valentin.
»The Good Liar« mit Helen Mirren und Ian McKellen
Am Freitag schließlich ging es um die Rache, diskutiert am Beispiel des US-Dramas The Good Liar mit Helen Mirren und Ian McKellen. Als Experte sorgte Sebastian Schirrmeister für lebendigen Austausch. Jeder trage den Wunsch nach Gerechtigkeit und Rache in sich. Anders als in der Realität seien beide zumindest in der Kunst möglich, was auch einen kathartischen Effekt haben könne.
Seminarleiter Doron Kiesel ist zufrieden. Seine ganz persönliche Motivation sei es, Reflexionsfähigkeit zu vermitteln. Er wolle »neugierig machen« auf verschiedene Perspektiven. Dafür sei das Kino besonders geeignet, »denn es ist so emotional«. »Filme leuchten Aspekte aus, die wir sonst nicht erfahren, sie dringen zu den Menschen mehr durch.« Und wie! Keiner verlässt das Seminar, ohne etwas über sich selbst gelernt zu haben. Zum sechsten Mal wurde zum Denken ins Kino geladen. Auf 120!