3. Juli 1952. Ein Schriftsteller gesteht seine Liebe zur Sprache. Er weiß, dass er demnächst sterben wird. Der Tod ist unvermeidbar. Denn die Verhöre, denen Dovid Bergelson im Juli 1952 ausgesetzt ist, sind eine Farce. Fünf Wochen später, am 12. August – es ist sein 68. Geburtstag –, wird er im Lubjanka-Gefängnis in Moskau erschossen. Es ist die »Nacht der ermordeten Dichter«. Und das Ende jiddischen Dichtens in der Sowjetunion.
Bergelson, im Generalgouvernement Kiew geboren, war mit neun Jahren Halb-, mit 14 Vollwaise, ab 1898 in Kiew ansässig, dort 1917/18 Mitgründer der jiddischen Kultur-Lige (sechs Monate später verfügt sie bereits über fast 100 Dependancen, auch in Paris, New York, Mexiko und Harbin/China) und 1920, nachdem die Sowjets die Kultur-Lige ausgelöscht hatten, via Moskau und Kaunas nach Berlin emigriert. Als Literaturredakteur arbeitete er für die Zeitschrift »Milgrojim«.
1922/23 erschien eine sechsbändige Werkausgabe, von 1928 bis 1930 folgte, in Vilnius verlegt, eine achtbändige. Um 1930 machte Bergelson einen Ideologie-Schwenk weit nach links. Er glaubte, einen Aufschwung jiddischer Kultur in der Sowjetunion zu erkennen. 1933/34 floh er via Paris aus Berlin nach Moskau. Ab 1940 engagierte sich der hoch bezahlte jiddische Autor im Jüdischen Antifaschistischen Komitee, floh 1941 nach Taschkent und von dort weiter nach Kuibyschew, heute Samara. Im Januar 1949 wurde er im Zuge der eskalierenden spätstalinistischen Paranoia verhaftet.
INSTRUMENT Drei Jahre später bekannte er, auch ein begabter Geiger: »Ich war dem Jiddischen – als Instrument – zutiefst verbunden.« Und: »Ich weiß, dass ich nicht mehr lange zu leben habe, doch ich liebe es (das Jiddische) wie ein liebender Sohn die Mutter.«
Dies sind die letzten Sätze Bergelsons in dem neuen Auswahlband seiner Prosa in deutscher Sprache. Die Welt möge Zeuge sein enthält 15 klug ausgewählte Texte, 13 Erzählungen, einen Ausschnitt aus dem Drama Prinz Reuveni sowie eine Rede. Sensibel dazwischen eingestreut kurze Selbstaussagen und -auskünfte (»So also schreibe ich«) und Impressionen wie Souvenirs von anderen.
Treffend heißt es in Sabine Kollers vieles erhellendem Nachwort, dass Bergelson in seiner ersten Zeit in Berlin eine kreative Hochphase hatte. In seinen Erzählungen ist jedermann sich fremd. Verlust wie Verlorenheit im Exil sind greifbar. Die Protagonisten sind alle zur falschen Zeit am falschen Ort. Sensibel wird Bergelson literarisch situiert, im Übergang des russischen Symbolismus zum modernen psychologischen Realismus. Zukunftsleer seien, meint Koller zu Recht, seine Figuren, gefangen im Gestern, eingefroren in einem Schwebezustand. Bergelson, so einer seiner Ausdeuter, sei Jäger und Gefangener von Stimmungen in einer Person gewesen.
»NEUER MENSCH« In Berlin lernte er Kafka und Döblin kennen: Futurismus, Expressionismus, Avantgarde. Ab 1934 erfolgte der Schwenk zum Sozialistischen Realismus, zum propagandistischen Verkünden des Umschmiedens des Einzelnen zum »novyi tschelovek«, zum »Neuen Menschen«. Doch Bergelson ist dabei subtiler als andere. Nun ist für ihn Erinnern wichtig – in den 30er-Jahren arbeitete er an Bam Dnjepr (Am Dnjepr), einem autobiografischen Entwicklungs- und Bildungsroman, dessen erster Teil 1932 in Moskau publiziert und sehr gelobt wird; Teil 2 kommt 1940 heraus.
Nach Kriegsende erscheinen die Erzählungen An ejdes (Ein Zeuge) und Bajm schajn fun schajters (Beim Schein der Scheiterhaufen). Vor allem erstere ist ein Akt des Bezeugens – und einer der Übersetzung, vom mündlichen Erzählen in schriftliches, vom Jiddischen ins Russische. Und in Prinz Reuveni (1942–46) versucht Bergelson, die Rhetorik von Shakespeares König Lear in eine des Überlebens, der Aussicht auf Leben hinüberzuheben. Zvej veltn ist 1947 dann ein Roman, in dem er das Experiment Birobidschan als Vermächtnis gegenwärtig zu halten versucht, als Agonie.
Solche Ausgaben wie diese, deren 70 Seiten langer Anhang aus eminentem Anmerkungsapparat und einem Glossar besteht, wünschte man vielen fast vergessenen jiddischen Autoren.