Literatur

Schreiben in Zeiten des Krieges

Unser Autor Eshkol Nevo glaubt an den Wert von Worten und die heilsame Kraft des Geschichtenerzählens

von Eshkol Nevo  16.10.2024 12:34 Uhr

Der israelische Schriftsteller Eshkol Nevo Foto: Marco Limberg

Unser Autor Eshkol Nevo glaubt an den Wert von Worten und die heilsame Kraft des Geschichtenerzählens

von Eshkol Nevo  16.10.2024 12:34 Uhr

»Den Menschen immer und zu jedem Moment daran zu erinnern, dass der Zeitpunkt, umzukehren und wieder Mensch zu sein,  noch nicht versäumt wurde.«

(Antwort der Dichterin Leah Goldberg auf die Frage nach der Aufgabe von Künstlern in Kriegszeiten)

Das letzte Jahr war ein trauriges Jahr, vielleicht das traurigste in meinem Leben als Israeli. Aber es war auch ein bedeutsames Jahr. Wieder und wieder wurde mir in diesen Monaten die Kraft und der Wert von Worten bewusst. Ich sah, welche Fähigkeiten wir Geschichtenerzähler haben – zu heilen und Hoffnung zu schenken.

Seit Beginn des Krieges bin ich mehr Therapeut als Schriftsteller; ich treffe mich mit Binnenvertriebenen, mit den Familien der Geiseln, mit Verwundeten, mit Post-Trauma-Patienten, und leihe ihnen ein wenig meiner Worte, oder helfe ihnen, ihre eigenen Worte zu finden. Ich nehme ihren Schmerz in meinen Körper auf und trage ihn mit mir.

Manchmal frage ich mich, ob das alles nicht zu viel für mich ist, vielleicht bin ich nicht grundlos kein Psychologe geworden, schließlich besitze ich überhaupt keine Schutzhaut. Und manchmal frage ich mich, wieso sich Menschen mit ihrem Schmerz an einen Schriftsteller wenden, was erwarten sie? Helfe ich ihnen überhaupt?

Seit Beginn des Krieges bin ich mehr Therapeut als Schriftsteller

Aber weiterhin sage ich »Ja, natürlich« zu jeder Bitte, die an mich herangetragen wird. Denn wie könnte ich nur Nein sagen.

Vor ungefähr einem Monat hatte ich ein Treffen in der orthopädischen Abteilung einer Klinik. Die Teilnehmenden kamen in Rollstühlen. Sechs, sieben Kriegsversehrte. Einer ohne Bein. Einer ohne Hand. Eine mit einem großen Verband um den Kopf. Ich las ihnen eine Geschichte vor. Ab und an hob ich den Blick, um nachzusehen, wie es ihnen geht. Sie hatten Schmerzen. Ich bin es gewohnt, vor sensiblen Menschen zu sprechen. Aber hier handelte es sich um Menschen, die unter konkreten physischen Schmerzen leiden. Ihren Gesichtern sah ich an, dass der Schmerz sie quälte, in diesem Moment. Während ich las, verließ die junge Frau mit dem Kopfverband den Raum. Vielleicht hat sie sich eine Spritze gegen die Schmerzen geben lassen? 

Ich las ihnen noch eine Geschichte vor. Übersprang während des Lesens einen Abschnitt, von dem ich befürchtete, dass er ein Trigger sein könnte. »Füg ihnen bloß nicht weiteren Schmerz zu«, sagte ich mir selbst. »Füg ihnen bloß keinen weiteren Schmerz zu.« Nachdem ich fertiggelesen hatte, fragte ich, ob es Fragen gäbe. Ein junger Mann, dessen Bein in einer Orthese steckte, hob die Hand und fragte etwas. »Sag mal, basiert dein Buch Wir haben noch das ganze Leben auf einer wahren Geschichte?« Nachdem ich ihm geantwortet hatte, hob er wieder die Hand. »Und die Zettel mit den Wünschen, die habt ihr bis heute nicht geöffnet?« Und nachdem ich ihm antwortete, nein, wir hätten sie bis heute nicht geöffnet, fragte er weiter: »Und denkst du, ihr habt eure Wünsche erfüllt? Denkst du, du hast deine erfüllt?«

Er löcherte mich weiter mit Fragen. Während ich ihm antwortete, zerstreuten sich die anderen nach und nach, rollten zurück in ihre Klinik-Zimmer, bis nur noch er und ich übrig waren.

Auf dem Weg nach Hause fragte ich mich, ob ich ihnen gutgetan hatte

Auf dem Weg nach Hause fragte ich mich, ob ich ihnen gutgetan hatte. Hatte ich sie wenigstens ein bisschen abgelenkt? Und was, wenn ich ganz andere Geschichten hätte auswählen sollen?

Ein paar Tage später bekam ich eine Mail von jenem jungen Mann mit den vielen Fragen. Sein Name ist Ohad Sweesa, er wurde in einem Kampf im Gazastreifen am 23. Oktober verletzt. Er schrieb mir, dass ihn das Treffen mit mir zum Schreiben ermutigt habe, nachdem er sich viele Jahre nicht getraut hatte. Er hatte einen kleinen selbstgeschriebenen Text angehängt.

Ich erinnere mich an den Surflehrer in Sri Lanka, der mir in gebrochenem Englisch zuschrie: Zuerst mit dem Kopf nach vorne auf den Horizont schauen, dann erst an die Beine denken. Wie sehr er recht hatte, auch ohne es zu wissen. Ich muss jetzt nach vorne auf den Horizont schauen, und erst dann an die Beine denken.

Es gibt eine Schreibübung, die ich mit jeder Gruppe seit Oktober mache. Man schreibt dabei gemeinsam ein Gedicht. Jeder muss dem Gedicht eine Zeile hinzufügen, die mit »Es ist in Ordnung, dass ich…« beginnt.

Es ist in Ordnung, dass ich weine.

Es ist in Ordnung, dass ich nicht weine.

Es ist in Ordnung, dass ich die Nachrichten nicht mehr verfolge.

Es ist in Ordnung, dass ich die Videos vom 7. Oktober nicht angesehen habe.

Es ist in Ordnung, dass ich gestern tanzen gegangen bin.

Es ist in Ordnung, dass ich vor lauter Sorgen nicht schlafen kann.

Es ist in Ordnung, dass ich keine Lust auf Sex habe.

Es ist in Ordnung, dass ich keinen Appetit habe.

Es ist in Ordnung, dass ich lebe.

Es ist in Ordnung, dass ich Angst habe.

Es ist in Ordnung, dass ich nicht in Ordnung bin.

Immer weiter füllen die Sätze den Raum. Schuld gehüllt in Schuld gehüllt in Schuld gehüllt in Schuld. Wenn jemand einen Satz vorliest, nicken anderen, die sich mit ihm identifizieren können. Und wenn das Ganze auf Zoom stattfindet, dann zeichnen sie kleine Herzen neben die Sätze, in denen sie sich wiederfinden. Und ich denke mir, dass diese unglaubliche Entdeckung – du bist nicht die Einzige, die fühlt, was sie fühlt – genau das Rettende ist, das die Literatur den Menschen momentan schenken kann.

Letzte Woche fragte mich eine deutsche Journalistin

»Und können Sie Empathie für die Bewohner Gazas empfinden?«, fragte mich eine deutsche Journalistin letzte Woche.

In den ersten Tagen fiel mir das nicht einfach, antwortete ich ihr ehrlich. Das Wissen darum, dass tausende Bewohner Gazas, die nicht zur Hamas gehören, an den Vergewaltigungen und den Plünderungen des 7. Oktobers teilnahmen, machte mein Herz für einige Zeit unempfänglich für ihr Leid. Doch ich muss weiter daran festhalten, dass auf der anderen Seite Menschen leben.

Ich muss nah heranzoomen, wie in einem Close-Up. Ein Bild auf den Nachrichtenseiten auswählen und den Blick nicht davon abwenden. Zum Beispiel folgendes: Kinder aus Gaza, in der Schlange der Essensvergabe. Sie halten bunte Eimer aus Plastik in ihren Händen. Wie die Eimer, die man mit ans Meer nimmt, um im Sand zu spielen. Und in ihren Augen, so erscheint es mir, ist vor allem Verblüffung zu sehen.

Ich muss all mein empathisches Vermögen aufbringen, sonst würde ich herzlos und grausam wie die Hamas werden

Ich muss all mein empathisches Vermögen aufbringen und anerkennen, dass es auf der anderen Seite Kinder und Erwachsene gibt, die jetzt gerade leiden. Die nach Brot hungern. Die kein Dach über dem Kopf haben. Die ihre Liebsten in diesem Krieg verloren haben.

Sonst würde ich herzlos und grausam wie die Hamas werden. Und herzlos und grausam wie die Hamas zu werden würde bedeuten, die Hamas siegen zu lassen.

In einem Schreibseminar schrieb mir ein Teilnehmer über den Chat: »Die Geschichte, die wir uns selbst über unser Leben an diesem Ort hier erzählt haben, ist zerbrochen, Eshkol. Kannst du uns vielleicht eine neue Geschichte erfinden?«

Ich weiß nicht mehr, was meine Meinung zu einer Reihe von Themen ist

Noch weiß ich nicht, wie die neue Geschichte aussieht. Und nicht nur das. Ich weiß auch nicht mehr, was meine Meinung zu einer Reihe von Themen ist, zu denen ich vor dem 7. Oktober eine entschiedene Meinung hatte. Die Realität hat sich verändert. Und sie verändert sich noch immer. Von Tag zu Tag. Es wird Zeit brauchen, bis wir wieder wissen, was unsere Meinung ist. Und es ist in Ordnung, dass wir uns diese Zeit nehmen.

Was aber weiß ich?

Ohne eine Vorstellung von der Zukunft, ohne Hoffnung - entsteht ein Vakuum der Verzweiflung, das von Terrororganisationen wie der Hamas gefüllt wird.

Und dann passiert der 7. Oktober.

Wenn es eines gibt, was aus jenem schwarzen Schabbat zu lernen ist, dann, dass wir aufhören müssen, den Konflikt von uns zu schieben. Es ist Zeit, die Illusion loszulassen, der Konflikt sei zu »managen« oder »einzudämmen«. Dieser Konflikt muss gelöst werden. Und gerade die aktuelle Krise bietet vielleicht, am Tag danach, eine Möglichkeit, umzudenken. Eine Möglichkeit, uns gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft und den Palästinensern  Lösungen vorzustellen, die noch nicht probiert wurden.

Sonst wird es uns nicht gelingen, dem blutigen Kreislauf zu entrinnen, der uns gefangen hält. Sonst wird unsere Geschichte hier kein gutes Ende haben.

Und mit Sicherheit wird die Geschichte so auch keinen neuen Anfang haben.

Der Autor ist Schriftsteller und lebt in Tel Aviv.
Aus dem Hebräischen von Lucia Engelbrecht


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