Literatur

Schreiben gegen das Schicksal

Nobelpreis 2002: Imre Kertész Foto: dpa

Dass einer der 437.402 ungarischen Juden – so die offizielle deutsche Zählung –, die vom 26. April bis zum 9. Juli 1944 aus Ungarn nach Auschwitz deportiert wurden, am 9. November dieses Jahres seinen 85. Geburtstag feiern kann, ist bemerkenswert genug.

Doch der Auschwitz-Rückkehrer Imre Kertész beschloss, Schriftsteller zu werden. Weswegen er in seiner Heimatstadt Budapest blieb, wo er alles überstand, was die Geschichte den ungarischen Juden noch zu bieten hatte: die stalinistische Diktatur (in der er als junger Journalist die einzige feste Anstellung seines Lebens wegen mangelnder Gefügigkeit verlor), die von antisemitischen Untertönen nicht freie Revolution von 1956 und die darauf folgende Bedrückung und Dürftigkeit der ungarischen Variante des Realen Sozialismus, die er, weitab von Staatsaufträgen und -preisen, als freier Autor und Übersetzer durchlebte – mit einer Frau, die tagsüber kellnern ging, um die schmalen Einkünfte aufzubessern und ihrem Mann in der Einzimmer-Plattenbauwohnung die nötige Ruhe für seine selbst gewählte Lebensaufgabe zu sichern.

meisterwerk So ist der Roman eines Schicksallosen entstanden, der Kertész’ Deportation, sein Überleben und seine Rückkehr mit einer fast unerträglichen Intensität der Vergegenwärtigung vermittelt – und den eben deswegen zunächst keiner drucken wollte. Später wurde er als eines der großen literarischen Meisterwerke unserer Zeit anerkannt und brachte seinem Schöpfer 2002 den Nobelpreis für Literatur ein.

Imre Kertész hat sich stets geweigert, das ihm aufgezwungene »Schicksal« – als Jude, als Außenseiter – als gegeben hinzunehmen, und die Einmaligkeit des eigenen Erlebens dagegen gestellt, indem er das ihm Geschehene »mit der ihm gemäßen, besonderen Form des Erinnerns« zu Literatur umformte. »Um als Künstler … schließlich zur edelsten Form der Befreiung zu gelangen, zur Katharsis, an der er vielleicht auch noch seinen Leser teilhaben lassen kann.«

parkinson Er hat nie aufgegeben. Nach der nationalkonservativen Regierungsübernahme ist er aus der zunehmenden geistigen Enge Budapests nach Berlin – »mein New York« – gezogen. Als ihm die Parkinson-Krankheit das Schreiben unmöglich zu machen drohte, hat er sich, in fortgeschrittenem Alter, den Umgang mit dem Computer angeeignet, und so, trotz zunehmender körperlicher Beschwerden, noch viele Texte und ein ganzes Buch, die Letzte Einkehr, zustande gebracht.

Seit 2012 lebt er, durch seinen Gesundheitszustand bedingt, wieder in Budapest. Dass er nun, im August dieses Jahres, entschied, den ihm angetragenen höchsten Staatspreis von derselben ungarischen Regierung anzunehmen, deren Kulturoffizielle ihn zuvor antisemitisch beschimpft hatten, hat manchen seiner Bewunderer erstaunt. Es ist die Haltung eines pragmatischen alten Juden, der, was ihm an öffentlicher Wirkungsmöglichkeit geblieben ist, für ein sehr jüdisches Ziel einsetzen möchte: die Versöhnung.

Dass ihm das noch lange Zeit vergönnt sein möge, ist ihm, Ungarn und uns allen zu wünschen. Boldog születésnapot! Bis hundertundzwanzig!

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

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Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

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Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

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Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

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Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025