Das denkende Herz in der Baracke ist der Titel der Tagebücher einer jungen Frau, die 1943 – mit gerade mal 29 Jahren – in den Gaskammern von Auschwitz zu Tode kam. Esther (Etty) Hillesum ist am 15. Januar 1914 im südniederländischen Middelburg in einer assimilierten jüdischen Familie geboren. Der Vater ist Gymnasiallehrer für alte Sprachen, die Mutter eine gebürtige Russin, die vor antijüdischen Pogromen in die Niederlande geflohen war. Ihr Bruder Michael ist ein talentierter Pianist, Bruder Jaap Arzt. Etty studiert ab 1932 Recht und slawische Sprachen an der Universität von Amsterdam.
Die Niederlande sind bereits ein Jahr von den Deutschen besetzt, die Entrechtung der Juden ist im Gang, als die 27-jährige Jüdin beginnt, Tagebuch zu schreiben. Aus den Aufzeichnungen und Briefen, die sich über den Zeitraum März 1941 bis Oktober 1943 erstrecken, spricht trotz der konkreten Gefahren eine große Zuversicht.
leidensgenossen Deutlich sieht sie die ausweglose Situation der Juden in Amsterdam. Dennoch lässt sich Hillesum nicht davon abbringen, ihren jüdischen Leidensgenossen zu helfen: »Jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen. Wir dürfen zwar leiden, aber wir dürfen nicht darunter zerbrechen«, notiert sie am 3. Juli 1943.
Von August 1942 bis September 1943 arbeitet sie für den »Jüdischen Rat« im Lager Westerbork. In Westerbork, wo die Deportationen in die Konzentrationslager beginnen, schmuggelt Hillesum mithilfe einer Sondererlaubnis Briefe und Nachrichten aus dem Lager. In der Gegenrichtung bringt sie Medikamente für die inhaftierten Juden mit.
»Ich möchte das denkende Herz eines ganzen Konzentrationslagers sein. Ein Herz, das andere stützt und trägt und starkmacht«, schreibt Hillesum. Doch im September 1943 werden Etty und ihre Familie nach Auschwitz deportiert. Ein Bericht des Roten Kreuzes meldet ihren Tod am 30. November 1943 in Auschwitz. Auch Bruder Michael und die Eltern werden dort ermordet. Bruder Jaap stirbt nach der Befreiung von Bergen-Belsen 1945.
dokument Während das Tagebuch, das die Jüdin Anne Frank in ihrem Versteck an der Amsterdamer Prinsengracht führt, rasch nach seiner Entdeckung als historisches Dokument in die Geschichte eingeht und weltweite Verbreitung findet, wird eine Auswahl der eindringlichen Aufzeichnungen von Hillesum erst 1981 veröffentlicht: unter dem Titel Het verstoorde leven (Das zerstörte Leben). Eine deutsche Übersetzung erschien 1983 (Das denkende Herz der Baracke), ebenso Übersetzungen auf Englisch und Hebräisch.
Für Gideon Greif, einen israelischen Historiker und Fachmann für Zeugnisse aus den Konzentrationslagern, war das Schreiben von Hillesum zugleich Überlebensmechanismus und eine Form des Widerstands. »In einer Zeit, da die Nazi-Ideologie die Juden als Untermenschen degradierte, strebte sie die Verbreitung einer neuen Ethik und Menschenliebe an«, sagt Greif. Ihre Selbstdarstellung, moralische Stärke, Geradlinigkeit und seelische Reife seien auf jeder Seite spürbar.