Für Chen Reiss findet Musik nicht allein auf der Bühne statt. Spätestens seit die israelische Sopranistin ihren Militärdienst als Solosängerin im Orchester der Zahal absolviert hat, weiß sie, dass Musik auch eine gesellschaftliche Rolle spielt, dass der Klang Soundtrack einer Gesellschaft, ja einer ganzen Nation sein kann. Und den Soundtrack ihrer Heimat verkörpert für sie das Israel Philharmonic Orchestra.
Gerade arbeitet die 38-Jährige daran, einen Freundeskreis für das Orchester in ihrer Wahlheimat Wien aufzubauen. »Für mich ist es etwas Besonderes, als Israelin mit diesem Orchester aufzutreten«, sagt Reiss, »weil man sofort spürt, dass allein die Qualität und die Perfektion des Ausdrucks im Vordergrund stehen – und nicht die Politik in unserem Land.«
Für Reiss bedeutet Israel vor allen Dingen Vielfalt. Und die verkörpert sie auch selbst: Die Großeltern ihres Vaters kamen aus Ungarn, die Eltern ihrer Mutter aus der Türkei und Syrien. Während sie sich eher als aschkenasische Jüdin sieht, ist ihr Mann sefardischer Jude. »Die Gegensätze, die im Alltag manchmal aufgebaut werden, lassen sich vereinen, wenn es wie beim Aufführen eines klassischen Werkes um etwas Größeres geht«, sagt Reiss. »Da wollen am Ende alle das Gleiche: eine perfekte Aufführung.«
kamele Die inzwischen 80-jährige Geschichte des Israel Philharmonic Orchestra ist für Reiss auch die Geschichte von der Musik als Möglichkeit der Hoffnung. Als die ersten Juden in Nazideutschland aus den Orchestern entfernt wurden, gründete der Geiger Bronislaw Huberman ein neues, eigenes Orchester in Palästina. »Für viele jüdische Musiker war es eine schwere Entscheidung, Huberman zu folgen«, sagt Reiss. »Palästina war damals in erster Linie Wüste. Statt der Straßenbahnen in Berlin und Wien gab es Kamele, und dieses Abenteuer anzutreten bedeutete auch: Butter auf dem Schwarzmarkt zu organisieren, statt Apfelstrudel im Caféhaus zu essen.«
Nach der Staatsgründung 1948 wurde das Palestine Orchestra dann in Israel Philharmonic Orchestra umgetauft. Dirigenten wie Leonard Bernstein und Zubin Mehta haben es fest im gesellschaftlichen Leben Israels und im internationalen Konzertbetrieb etabliert. »Das Bild Israels im Ausland wandelt sich dauernd«, sagt die Sängerin, »und ich kann nicht sagen, dass es in den letzten Jahren besser geworden ist.« Für Reiss ist daran auch die innere Zerrissenheit ihrer Heimat schuld. »Wir sind ein gespaltenes Land, das sich um die Zweistaatenlösung streitet, und in dem es Risse durch viele gesellschaftliche Schichten gibt.« Umso wichtiger ist es ihr, ein Orchester zu fördern, das über den tagespolitischen Disputen steht und den musikalischen Humanismus als Grundlage definiert.
Natürlich ist die Sopranistin nicht naiv. Sie weiß , dass Musik keine Alternative zur Politik sein kann. Reiss glaubt aber sehr wohl, dass Institutionen wie ein Orchester den Ton einer Gesellschaft beeinflussen können, dass sie als Kitt einer Nation dienen können, als Orientierung, Besinnung und als Vorbild besonders für eine junge Generation.
Österreich Es gibt bereits Freundeskreise des Israel Philharmonic Orchestra in den USA, in Großbritannien, in der Schweiz und in Südamerika – aber nicht in Österreich. »Das ist umso bemerkenswerter, da von den 73 Gründungsmusikern 19 aus Polen, 16 aus Deutschland und immerhin zehn aus Österreich kamen«, sagt Reiss. Sie weiß allerdings auch, dass Österreich gerade für Sponsoring bis heute ein kompliziertes Pflaster ist. Es ist grundsätzlich schwierig für österreichische Kulturinstitutionen, Gelder zu akquirieren. Für Reiss liegt das hauptsächlich daran, dass die Steuervorteile für Spender in den USA wesentlich größer sind.
Vielleicht gäbe es in der älteren Generation auch Vorbehalte gegen die österreichische Aufarbeitung der Vergangenheit. Reiss selbst, die seit Jahren in Wien lebt, hatte in Österreich bislang noch keine antisemitischen Begegnungen. »Mir macht die Israelfeindlichkeit in europäischen Ländern wie Frankreich und England viel mehr Angst, denn die ist am Ende auch Antisemitismus.« Als Beispiel führt Reiss ein Konzert des Israel Philharmonic Orchestra bei der »Night of the Proms« in London an, das unterbrochen werden musste, weil die Musiker angepöbelt wurden.
Den Freundeskreis in Österreich plant Chen Reiss in enger Absprache mit dem Dirigenten Zubin Mehta, der das Orchester 2019 verlassen wird. »Mit ihm hat das Israel Philharmonic Orchestra so unendlich viel geschafft«, sagt Reiss, »nicht nur die internationalen Konzerte und Tourneen, sondern auch die zahlreichen Bildungsprojekte vor Ort, in denen das Orchester mit israelischen und arabischen Schulen ebenso zusammenarbeitet wie mit Einrichtungen von Beduinen.« Sie ist davon überzeugt, dass es keine Grenzen für das Orchester gibt – weder auf seinen Gastspielen noch in Israel selbst. »Es steht für jene Werte, aus denen heraus es geboren wurde: durch die Schönheit der Musik Menschen zusammenzubringen.«
Umso absurder ist für die Sopranistin der Kurs der neuen israelischen Kulturministerin Miri Regev, die sich entschlossen hat, die Subventionen für klassische Musik zu minimieren, um stattdessen vor allem traditionelle israelische Musik zu fördern. »Ich stelle diesen Schritt grundsätzlich infrage«, sagt Reiss, »denn für mich ist die Konstellation von Klassik und jüdischem Leben kulturhistorisch relevant und bis heute prägend.«
humanität Was wäre die Musikgeschichte ohne Meyerbeer, Mendelssohn, Mahler oder Alban Berg? Die Gründung des Israel Philharmonic Orchestra vor 80 Jahren habe doch gezeigt, ist Reiss überzeugt, wie verankert jüdische Musiker in europäischen Orchestern waren. Die meisten Gründungsmitglieder spielten in den 30er-Jahren in ihren Ensembles eine führende Rolle, bevor sie vertrieben wurden.
Es ist ihr Erbe, das Chen Reiss bewahren will: »Das Israel Philharmonic Orchestra ist für mich einer der besten Botschafter eines positiven Israel: geprägt von seiner Geschichte und gerade deshalb weltoffen und allein den Menschenrechten und der Humanität verpflichtet. In diesem Orchester ist die musikalische Qualität oberstes Gebot, der gemeinsame Wille, etwas Besonderes zu schaffen – ein Geist, den ich auch mit Israel verbinde.«
Am 25. März findet im Wiener Palais Schönburg der Festakt samt Konzert zur Gründung der Freunde des Israel Philharmonic Orchestra in Österreich statt.