Adam Andrusier

Schön schräg bis leicht bizarr

Richard Kiel (l.), der »Beißer« in den James-Bond-Filmen, mit Adam Andrusier Foto: Adam Andrusier

Adam Andrusier

Schön schräg bis leicht bizarr

Ein britischer Autogrammhändler verfasst seine Memoiren

von Alexander Kluy  29.04.2023 23:28 Uhr

Die Liste hat es in sich: »1 Sinatra. 1 Elvis Presley. Noch mehr Elvis Presley, leider falsch. 1 Nelson Mandela. 1 Boris Jelzin. 1 Norma Major, Gattin eines einstigen englischen Premierministers. 1 Clint Eastwood. 1 Kirk Douglas. 2 Kirk Douglas. Viele Kirk Douglas.«

Was sich so merkwürdig anhört, das ist die Sammlung, die der junge Adam Andrusier in seiner Heimatstadt Pinner, einem nordwestlichen bürgerlichen Vorort Londons, anzulegen beginnt. Es ist eine Kollektion von Autogrammen, signierter Fotografien Prominenter. Und wie es sich für das Buch eines Engländers gehört, früher noch stärker, ausgeprägter und überkandidelt prononcierter als heute, ist es ein wundersam exzentrisches Buch. Fast noch wundersamer als das Sammeln, aus dem sich zu seiner eigenen Überraschung wie Bestürzung ein Beruf herausmendelt.

INSPIRATIONSQUELLE Vor mehr als 20 Jahren diente Andrusier, Jahrgang 1981, der um wenige Jahre älteren Autorin Zadie Smith als Inspirationsquelle für ihren zweiten Roman Der Autogrammhändler, der nicht wenigen nicht wirklich geglückt anmutete und heute zu ihren eher vergessenen Werken gehört. Nun erzählt er seine Lebensgeschichte selbst. Und macht dies geistreich und mit großer selbstironischer Souveränität. Als hätte sich der junge Woody Allen mit Bernard Malamud verabredet, um Saul Bellow etwas in den Bleistift zu diktieren, den Groucho Marx zuvor angespitzt hat.

Sein Vater führte Sketche vor israelischen Volkstanzgruppen auf – verkleidet als Chassid.

Seine nicht observante Familie ist schön schräg. Bis leicht bizarr. Sein Vater ist Versicherungsmakler. Aber viel stärker ist er an seinen zwei Freizeitbeschäftigungen interessiert. Zum einen sammelt er manisch Aufnahmen von Synagogen in Mittelost- und Osteuropa, die die Nazis während des Zweiten Weltkriegs schleiften, sprengten, zerstörten.

Zum anderen engagiert er sich entfesselt wild, und zwar bis zum körperlichen Kollaps, bei israelischen Volkstanzgruppen. Dort führt er auch manchmal Sketche auf, verkleidet als Chassid. Seine Gags sind dermaßen schlecht, dass seine ohnehin jedes Mal widerwillig anwesende Familie sich in Grund und Boden schämt.

Um die elterliche Ehe steht es schlecht. Des Vaters ewig klammernde Mamme – der abendliche Anruf ist Pflicht! – wirft einen großen Schatten auf und über die Beziehung von Mutter und Vater. Adams Mutter verstummt immer stärker, die Ehe hat ihren Kipppunkt schon überschritten. Die Großelternpaare ignorieren sich seit Langem in gut kultivierter gegenseitiger Abneigung.

MUSIKSTUDIUM Adam wird größer. Und beginnt ein eigenes Hobby. Er ergattert von Prominenten Autogramme und legt sukzessive eine Sammlung an. Als Jugendlicher verliebt er sich, entliebt sich, wird zum Musikstudium in Cambridge zugelassen. Er scheitert aber bei einem entscheidenden großen Ravel-Konzert an seinen Nerven, ihm will keine einzige der Noten mehr einfallen, die er in den Wochen zuvor nahezu schlafwandlerisch spielen konnte. Damit ist der Traum von einer Solo-, ja überhaupt von einer Musikkarriere ausgeträumt.

Nach dem Studium rutscht er zufällig und völlig ungeplant in die Szene professioneller Autogramm-, später dann in die Szene der Autografenhändler. Er hat Erfolg und baut sich eine bürgerliche Existenz auf – und fühlt dabei immer stärker, dass er in trüber Routine steckt. Als Versorger manchmal recht unappetitlicher Obsessionen und noch haarsträubenderer Sammler empfindet er sich.

Am Ende steht Andrusier, der einst mit den Unterschriften von Filmdiven sowie Schauspielern zu handeln begann und dies dann abbrach, in der Nähe von San Diego im südlichen Kalifornien auf dem Palomar Mountain. Neben ihm ein Mann, der Jack Nicholson verblüffend ähnelt. Kann es sein, dass es der Schauspieler – ist es tatsächlich der Darsteller des Jokers in Tim Burtons Batman und George Hensons in Easy Rider?

Andrusier bringt ihn zum Lachen, weil er einen der bekanntesten Sätze aus Chinatown zitiert, Roman Polanskis großartigem Film noir mit Nicholson über Lügen und Betrug: »Nun, um die Wahrheit zu sagen, ich habe ein wenig gelogen.«

Dies ist kein Coming-of-Age-Roman, sondern ein Coming-of-Autogramme-Buch.

So färbt Andrusier auf der letzten Seite seine Erzählung artistisch anders ein, von hinten her. Denn: Was ist Erfindung, also Lüge, was Erinnerung, was Leben?

Ein ganz neues Genre ist dies. Nicht ein Coming-of-Age-Roman, der also vom Erwachsenwerden und dessen diversen, in bestimmten Phasen weniger stabilen, zu anderen Zeiten psychologisch fragilen Zuständen handelt, sondern ein Coming-of-Autogramme-Buch.

SELFIES Andrusier schreibt witzig, geistreich, sehr unterhaltsam. Er hat ein ausgeprägtes prägnantes Gehör für Dialoge wie ein Gespür für Situationswitz. Aber auch für Melancholisches. Am Ende muss er sich eingestehen, dass niemand mehr, ach, Autogramme sammelt – alle machen heute Selfies mit den VIPs.

Ein Rätsel bleibt jedoch im Dunkeln: Wieso nennt der Unionsverlag dieses Buch »Roman«? Weil es sich so besser verkauft als mit dem Untertitel »Lebenserinnerungen eines in Kontinentaleuropa außerhalb der Nische der Autogrammsammler unbekannten jüdischen Engländers, der über 40 ist«? In englischen Zeitungen wurde es zu Recht in der Sektion »Memoiren und Autobiografisches« rezensiert.

Adam Andrusier: »Tausche zwei Hitler gegen eine Marilyn«. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Unionsverlag, Zürich 2023,
320 S., 24 €

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