Acht Tage lang hat Amazon Deutschland geprüft, sich intensiv mit der US-Konzernzentrale abgesprochen, und heraus kam dieses Statement einer Firmensprecherin, ursprünglich in englischer Sprache: »Aufgrund eines Fehlers war die Entfernung des Titels nicht korrekt.« Jetzt sei das Buch, um das es geht, »wieder verfügbar«.
Was der Onlinehändler als technisches Problem darstellt, hat mit einem wichtigen Werk der Schoa-Forschung zu tun: »Im Jenseits der Menschlichkeit« von Miklós Nyiszli. Der jüdische Auschwitz-Häftling hat einen detaillierten Bericht über die Funktionsweise von Auschwitz-Birkenau vorgelegt. Es gibt nur wenige Überlebende der jüdischen Sonderkommandos, und ihnen verdanken wir genaue Kenntnisse über die Vorgänge bei der Vernichtung von Menschen. Nyiszlis erschütternder Bericht, der erstmals 1946 in Rumänien und 1947 in Ungarn erschien, gilt als eines der wichtigsten Zeugnisse.
Nyiszlis Buch war angeblich »anstößig«
Nicht nur für die historische Forschung ist es von enormem Wert, auch Hollywood nahm sich des Stoffs an, wie mit Nyiszli ein jüdischer Mediziner gezwungen wurde, dem SS-Arzt Josef Mengele zu assistieren. »Die Grauzone« (engl. »The Grey Zone«) kam 2001 in die Kinos, unter anderem mit Harvey Keitel. In Deutschland waren Nyiszlis Erinnerungen bis in die 1990er-Jahre nur selten und nur auszugsweise zu erhalten. Seit 1992 liegt der gesamte Erinnerungsbericht auch auf Deutsch vor, nämlich im Berliner Karl-Dietz-Verlag, der die Edition seither immer wieder überarbeitet und verbessert hat.
Ein wichtiges Buch also, aber es war von Januar bis Oktober 2024 bei Amazon gesperrt. Dem Dietz-Verlag wurde erst auf Nachfrage mitgeteilt, dass es »anstößige Inhalte« enthalte und einen »Verstoß gegen Inhaltsrichtlinien« des Konzerns darstelle. Den Vorwurf hält Amazon nicht aufrecht, aber: Neu ist er nicht.
Eine frühere Auflage, sie war 2005 erschienen, war im Jahr 2021 ebenfalls von Amazon gesperrt worden - mit gleicher Begründung. Damals war dem Herausgeber Andreas Kilian aufgefallen, dass das Buch bei Amazon nicht mehr zu haben ist. Details wurden nicht genannt. »Ich habe eine Alternative gesucht und wollte es auf Amazon Markteplace einstellen«, sagt Kilian. »Erst da erfuhr ich, dass das Buch nicht den Richtlinien entspreche und gesperrt sei.« Kilian ist ein renommierter Historiker, der seit Jahrzehnten speziell zur komplizierten Geschichte der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau forscht. Er protestierte energisch, und hatte recht schnell Erfolg. Nach wenigen Wochen war Nyiszlis Buch wieder lieferbar.
Kafkaeske Korrespondenz zwischen Amazon und Verlag
2024 aber war es komplizierter: Der Verlag hatte, wiederum betreut von Andreas Kilian, eine wesentlich umfangreichere Neuausgabe herausgebracht. Neben dem Originalbericht Nyiszlis, der sorgfältig mit Fußnoten bearbeitet wurde, finden sich faksimilierte Akten, aktuelle und historische Fotos, Lagekarten, dazu weitere historische Texte von Nyiszli, etwa seine Aussage vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg.
Rein technisch also ein neues Buch, das auch eine neue ISBN erhielt, die Standardnummer des internationalen Buchhandels. »Amazon hatte jedoch die Metadaten des alten Titels mit denen des neuen vermischt«, berichtet Martin Beck, Verlagsleiter bei Dietz. Der Verlag vermutete ein technisches Versehen und teilte dies Amazon mit.
Doch der Konzern antwortete, »im Rahmen unseres Überprüfungsprozesses« sei festgestellt worden, »dass Ihr Buch anstößige Inhalte enthält«. Dietz war fassungslos, protestierte. Die Korrespondenz zwischen Verlag und Konzern trägt kafkaeske Züge: Mehrmals sandten Amazon-Mitarbeiter, die zwar namentlich unterzeichnen, bei denen es sich auch um Chatbots handeln könnte, Mails mit immergleichen Textbausteinen an den Verlag. Juristisch wollte Dietz gegen Amazon nicht vorgehen, dazu sei der Verlag zu klein. »Wir waren verzweifelt«, sagt Beck. »Wir fanden einfach keinen Ansprechpartner.«
Der Konzern verhält sich nebulös
Tatsächlich hat sich Amazon »Inhaltsrichtlinien für Bücher« gegeben. Wie die Prüfung abläuft, wird darin wie folgt beschrieben: »Dabei verwenden wir eine Kombination aus Machine Learning, Automatisierung und engagierten Teams, die Inhalte manuell prüfen.« Es scheint diese »Kombination« zu sein, die nicht unterscheiden kann zwischen seriöser Forschungsliteratur zur Schoa und rechtsextremen Auschwitz-Leugnern, deren Werke immer noch verkauft werden.
Entsprechend werden auch die vielen Folgefragen, die sich aus dem Fall ergeben, von Amazon mit Schweigen übergangen: Warum wird, wenn man den Titel »Im Jenseits der Menschlichkeit« oder den Namen des Autors »Miklós Nyiszli« in die Suchmaske eingibt, stets die alte, bereits vergriffene Ausgabe angezeigt? Erst, wenn man die anklickt, erfährt man im Text, dass es eine neue, überarbeitete Version gibt.
Amazon hat monatelang auf Proteste des betroffenen Verlags mit falschen Behauptungen reagiert und das Werk gesperrt. Erst auf die Anfrage der »Jüdischen Allgemeinen« reagierte der Konzern - und nun ist das Buch auf der Amazon-Website auffindbar, allerdings arg versteckt.