Götz Aly ist Experte für die Sozialgeschichte des Nationalsozialismus, des Holocaust und des Antisemitismus. Er gilt als Querdenker unter Historikern, übte scharfe Kritik an der 68er-Bewegung, der er selbst angehörte. Er schrieb Essays für den »Spiegel«, die »Süddeutsche Zeitung« und die »Zeit«; viele seiner Bücher wurden zu Bestsellern.
Am vergangenen Freitag ist der gebürtige Heidelberger mit dem Estrongo-Nachama-Preis für Toleranz und Zivilcourage ausgezeichnet worden – nicht nur, weil er ein Wissenschaftler, Buchautor und Kolumnist von Rang, sondern auch persönlich engagiert sei, heißt es in der Begründung des Kuratoriums. Seit Langem ist der 71-Jährige neben seiner Forschungstätigkeit gleichberechtigter Mitwirkender beim Inklusions-Theater RambaZamba, in dem Schauspieler mit und ohne Behinderung professionell Theater spielen.
Laudatio »Wir würdigen Sie als einen Menschen«, hieß es in der Laudatio in der Synagoge Herbartstraße in Berlin-Charlottenburg. Dass die Preisverleihung in dem Gotteshaus stattfand, war kein Zufall. Fiel doch der Tag mit dem 100. Geburtstag von Estrongo Nachama zusammen, dem langjährigen Oberkantor in Berlin und Vorbeter jener Reformgemeinde. Sein Sohn Andreas Nachama ist dort heute ehrenamtlicher Rabbiner.
Nachdem Andreas Nachama das Freitagsgebet abgehalten hatte, in dem er sowohl seines Vaters als auch Michael Arndts, des verstorbenen Stifters des Estrongo-Nachama-Preises, gedachte, begann die feierliche Zeremonie. Zu den geladenen Gästen zählte neben den Angehörigen des Preisstifters auch Bezirksbürgermeister Reinhard Naumann (SPD). Die Laudatio hielt Rabbiner Walter Homolka.
Lichtenstaedter Seit 2013 wird die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung der Meridian-Stiftung vergeben. Als er von der Auszeichnung erfuhr, befand er sich gerade im Skiurlaub, sagte Götz Aly in seiner Dankesrede. Die Nachricht habe ihn sehr überrascht, aber auch glücklich gemacht. Das Preisgeld werde er in eine neue Publikation investieren. »Ich habe seit 15 Jahren ein Projekt zu Siegfried Lichtenstaedter«, sagte Aly. Ein Jude, der bis 1932 ein hoher Finanzbeamter in Bayern gewesen sei, erklärte der Historiker. 1942 wurde er nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet.
Was ihn an dem Mann besonders interessiere, seien seine Schriften. »Die wollte ich schon immer einmal veröffentlichen.« Lichtenstaedter habe um 1900 verschiedene Broschüren herausgebracht, in denen er die Zukunft des 20. Jahrhunderts vorhersagte, »den Nationalitätenkampf, den Antisemitismus, die Zukunft der Juden in der Welt und die Gefahren, die von Deutschland ausgingen«. Mithilfe des Preisgeldes habe er nun einen Verlag finden können. »Ich habe ausgemacht, dass ich für die ersten 10.000 Exemplare auf mein Honorar verzichten werde«, sagte Götz Aly.
Ungebundenheit Ob in der Schoa-Forschung oder in seiner Auseinandersetzung mit der 68er-Bewegung – die Globalgeschichte mit der individuellen Lebens- und Sterbegeschichte zu verknüpfen, das ist das Markenzeichen des Wahl-Berliners. »Mich haben die persönlichen Beispiele immer sehr berührt«, sagte Rabbiner Walter Homolka in seiner Laudatio. »Außerdem scheuen Sie sich nicht davor, lieb gewonnene Betrachtungen multiperspektivisch zu brechen« – ein Vorgehen, das ihn im Wissenschaftsbetrieb zu einem Außenseiter gemacht habe.
Doch die Kritik habe Götz Aly nicht davon abgehalten, weiter zu forschen. Er habe den Weg der Ungebundenheit beschitten und dabei auch neue Begriffe in der Schoa-Forschung geprägt, wie »Gefälligkeitsdiktatur, Zustimmungsdiktatur und Massenraubmord«, so Homolka. »Der Holocaust bliebe unverstanden, würde er nicht als Massenraubmord analysiert werden.« Auch, dass der Antisemitismus als grenzübergreifendes Phänomen betrachtet werden müsse, sei schlüssig, so Homolka. »Wir ehren Sie deshalb heute als wichtigsten deutschen Chronisten der Schoa.«