Die Boeing 737-200 des Fluges LH181 hob an jenem 13. Oktober 1977 pünktlich auf dem Flughafen Palma de Mallorca in Richtung Frankfurt ab. Noch ahnte die 23-jährige Flugbegleiterin Gabriele Dillmann nicht, dass soeben die dramatischsten fünf Tage ihres Lebens begonnen hatten. Zu diesem Zeitpunkt saß bereits ein vierköpfiges palästinensisches Terrorkommando in der Maschine. Noch heute erinnert sich die einstige Stewardess an jedes Detail der Geiselnahme, die an jenem Tag im französischen Luftraum begann und am 18. Oktober 1977 durch die deutsche Antiterroreinheit GSG-9 im somalischen Mogadischu beendet wurde.
crashkurs Zufällig saß Gabriele Dillmann während der Entführung neben einer jüdischen Passagierin. Das wurde ihr sofort klar, als die verängstigte Frau begann, auf Hebräisch das Schma Israel zu sprechen. Sie war, wie sich herausstellte, eine Schoa-Überlebende. Leise, aber nachhaltig flehte die Stewardess die Frau an, dies zu unterlassen. Ihr war klar, dass es das Todesurteil bedeuten würde, wenn die Terroristen deren Identität entdecken würden.
Gabriele Dillmann war zwar jung, aber alles andere als politisch naiv. Schon seit ihrer Jugend war sie in der hessischen SPD aktiv. »Sie werden die Pässe kontrollieren, wie letztes Jahr in Entebbe«, fürchtete die jüdische Passagierin. »Und dann werden sie in meinem die vielen israelischen Stempel entdecken.«
Spontan erfand Gabriele Dillmann für die Frau eine katholische Biografie. Demnach würde sie regelmäßig ihren Bruder besuchen, der als Priester in Jerusalem lebe. Flüsternd erteilte sie ihr einen Crashkurs in christlicher Lehre und brachte ihr die ersten drei Zeilen des Vaterunser bei. Mehr als diese waren auch ihr nicht geläufig. Und als das Terrorkommando auf der Suche nach jüdischen Passagieren dann tatsächlich die Pässe kontrollierte, wurde die katholische Legende geglaubt. Das war eines der Wunder dieser Entführung.
Mehrfach verhandelte die Stewardess in jenen Tagen vor 40 Jahren mit den Entführern, um Erleichterungen für die Passagiere zu erreichen. Das brachte ihr wenige Tage nach der Geiselbefreiung das Bundesverdienstkreuz am Bande und bei den Medien den Titel »Engel von Mogadischu« ein.
narben Heute heißt die Stewardess von damals Gabriele von Lutzau. Nach ihrer Rückkehr heiratete sie ihren Verlobten, einen Lufthansa-Piloten, der seinerzeit den deutschen Staatsminister Wischnewski in die somalische Hauptstadt gebracht hatte. 40 Jahre danach ist Gabriele von Lutzau eine arrivierte Bildhauerin mit einem Atelier im Odenwald und hat Sammler in ganz Europa.
Was hat sich durch die Entführung im Oktober 1977 für sie verändert? Sie muss nicht lange nachdenken, ehe sie erklärt: »Wenn man so viele Narben auf der Seele hat wie ich, empfindet man ähnlich sensibel wie Menschen, die physische Narben haben.« Diese Sensibilität fließt in ihre Kunst ein, die sie bei Walter Piesch, einem deutsch-französischen Bildhauer und Maler, an der Hochschule für dekorative Kunst in Straßburg erlernt hat.
Zunächst bewegte sie sich künstlerisch im Konventionellen – mit Stecheisen und Beitel. Als ihr bei einem schweren Auto-unfall das Handgelenk zertrümmert wurde, sagten die Ärzte, dass sie nie wieder als Bildhauerin arbeiten könne. Sie suchte nach anderen Wegen und fand die Kettensäge. Ihr bevorzugtes Arbeitsmaterial wurde das Holz.
buche »Mit einer solchen Unwucht in der persönlichen Historie, wie ich sie habe, ist man als Künstler am richtigen Platz«, sagt Gabriele von Lutzau. »Ich spreche nicht von einer Therapie durch Kunst, sondern meine seelischen Narben befähigen mich, empfindsamer zu reagieren.«
Ein Beispiel: Vor einigen Jahren nahm die Künstlerin an einem Bildhauersymposium bei Weimar teil und erfuhr von der Nähe zur KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Sie fuhr dorthin und wurde von ihren Empfindungen innerlich fast zerrissen. Auf der Rückfahrt durch die Buchenwälder ging ihr durch den Kopf, was sie eben erfahren hatte – dass nämlich die Buchen hier deshalb so gut wuchsen, weil die Asche aus dem Krematorium als Dünger verwendet worden war. Es war eine bedrückende Fahrt. Auf einer Lichtung entdeckte sie eine Buche, in die der Blitz eingeschlagen war. Sie zerfiel in zwei Teile und sah aus, als ob ein gigantischer Vogel hier gelandet wäre. Die beiden vermeintlichen Flügel wurden zur künstlerischen Idee. »Da ging bei mir eine Tür auf, und urplötzlich wusste ich, dass ich nicht tatenlos bleiben musste – ich konnte ein Zeichen setzen.«
Yad Vashem Doch für ihre Idee kam nicht irgendeine Buche infrage, sondern nur eine, die das Grauen »gesehen« hatte. Drei Jahre lang setzte sie alles daran, einen solchen Baum zu bekommen, ohne dass einer für ihr Projekt gefällt werden sollte. Dann kam der Anruf des Försters. Am Eingang zum einstigen KZ stehe eine Buche, die er fällen müsse. Das Grundwasser sei gesunken, und sie würde von oben nach unten austrocknen.
Bevor Gabriele von Lutzau anfing, damit zu arbeiten, fragte sie in Yad Vashem an, ob es an einer solchen Arbeit Interesse gebe. Erst nachdem das Geschenk der deutschen Künstlerin angenommen worden war, begann sie die Arbeit. Es entstand ein Flügel in einem Käfig.
Bei einem Besuch in Jerusalem trat ihr die Leiterin der Gedenkstätte mit einer dicken Akte entgegen und sagte lächelnd: »Glauben Sie bitte nicht, dass wir uns zuvor nicht über Sie informiert hätten.« Aus der Geisel eines arabischen Terrorkommandos war längst eine Israel-Freundin geworden.
kampf Gabriele von Lutzaus Skulpturen sind im ständigen Kampf, und sie sollen siegen, auch wenn sie nach geschlagener Schlacht die Spuren von Feuer und Verletzung tragen. »Das ist der Preis, den man für Gegenwehr zahlen muss«, sagte die Künstlerin, als sie vor fünf Jahren eine Ausstellung im Deutschen Bundestag hatte. Fiederungen hieß die kleine Werkschau, die bezeichnenderweise am Holocaust-Gedenktag eröffnet wurde. Mit dabei war ein in Bronze gegossenes Duplikat jenes Flügels, dessen Original bereits in Yad Vashem stand.
Norbert Lammert stand der Kunstankaufkommission des Bundestages vor. Würde sich der Deutsche Bundestag durch dieses symbolträchtige Kunstwerk nicht für eine kreative Brücke der Versöhnung eignen? Der sonst so kunstsinnige Parlamentspräsident mochte dies nicht so sehen. Es waren FDP-Parlamentarier, die das Kunstwerk ins Auswärtige Amt bringen ließen, wo damals noch Guido Westerwelle seinen Dienst versah. Der Flügel stand auch noch als Leihgabe in der Lobby, als Frank-Walter Steinmeier ins Ministerium zurückgekehrt war.
arbeitsgruppe Als 2014 die Frage im Raum stand, ob im Auswärtigen Amt an einen Ankauf gedacht sei – womit die Arbeit der Künstlerin eine angemessene Bezahlung erfahren hätte – versprach Steinmeiers Kulturreferent Andreas Görgen, das Anliegen in die Arbeitsgruppe einzubringen, die sich mit dem 50-jährigen Jubiläum der deutsch-israelischen Beziehungen beschäftigte.
»Die beiden Kunstwerke gehören genau dorthin, wo sie jetzt sind – der Originalflügel in Yad Vashem und dessen Bronzeduplikat eben an einer Stelle, wo unser Land außenpolitische Verantwortung trägt«, sagte die Künstlerin damals. Kurz darauf wurde Gabriele von Lutzau vom Auswärtigen Amt ohne jeden weiteren Kommentar mitgeteilt, dass man ihr das Kunstwerk wieder in den Odenwald zurückbringe.