Lenin war bekannter, Trotzki vielleicht jüdischer, Luxemburg, irgendwie zumindest, deutscher. Karl Radek zählt nicht zu den linken Ikonen des 20. Jahrhunderts. Literarisch und sogar durch eine Oper ist das Leben des 1885 als Karol Sobelsohn in Galizien Geborenen dennoch oft aufgearbeitet worden. Jetzt hat der Historiker Wolf-Dietrich Gutjahr eine fast 1000 Seiten umfassende, gründliche wissenschaftliche Biografie vorgelegt, die die Bedeutung Radeks als eine der großen Figuren der kommunistischen Weltbewegung herausarbeitet.
Radek, schreibt Gutjahr, »passte in keine nationale Schublade«. Einem Zeitgenossen war er »Pole und Jude, Deutscher und Russe, Asiate und Europäer«. Mit Radeks Judentum verhält es sich noch komplizierter. Ein Autor schrieb 1921: »Er ist geistig nicht nur Nicht-Jude, sondern sogar auch Jude.« Knapper lässt es sich vermutlich nicht ausdrücken.
gerüchte Als Jugendlicher engagierte sich Karl Radek in der polnischen Nationalbewegung, dann las er marxistische Schriften und wurde zum Sozialisten. Schon als 20-Jähriger, als andere erst Mitglied wurden, flog er aus der sozialistischen Partei Polens wieder raus. Er ging nach Deutschland, wo er für diverse SPD-Parteizeitungen schrieb und ob seiner Radikalität immer wieder Probleme bekam. Mit Rosa Luxemburg verkrachte er sich nachhaltig. Bis heute kolportierte Gerüchte, wonach Radek mit der polnischen Parteikasse durchgebrannt war, kann der Biograf weitgehend widerlegen, doch eine Heldengeschichte wird aus Radeks Leben deshalb nicht.
1918 wurde Radek vor allem wegen seiner Deutschkenntnisse zum Vertreter der Komintern bei der deutschen Revolution. Sein Einfluss als Quasibotschafter ging so weit, dass er – während er als revolutionärer Rädelsführer im Gefängnis saß – dort mit führenden Politikern und Industriellen, etwa Walther Rathenau, über das deutsch-russische Verhältnis verhandelte. Bis 1924 gehörte Radek dem ZK der KPdSU an, 1927 schloss ihn die Partei wegen seiner Nähe zu Trotzki aus und verbannte ihn nach Sibirien.
Spätestens danach begann seine große opportunistische Phase, deren Ursache Gutjahr nicht recht benennen kann: Radek machte mehr als nur seinen Frieden mit Stalin: Als Chefredakteur der »Prawda« vergötterte er ihn geradezu. Dennoch galt Radek Stalin und seinen Leuten immer noch als verdächtig, 1937 wurde ihm der Prozess gemacht. Obwohl zu jeder »Selbstkritik« und auch zu vielen Denunziationen bereit, wurde er zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Im Gulag wurde Radek, wie Gutjahr materialreich belegt, am 19. Mai 1939 vom NKWD umgebracht.
janusgesicht Gutjahrs Biografie ist keine leichte Lektüre, die historischen Details sind gegenüber den analytischen Passagen deutlich überrepräsentiert, und so erfährt man mehr über die Person denn über den Akteur im historischen Ensemble. Fragwürdig scheint auch, Radek, wie es Gutjahr im Vorwort tut, als exemplarischen »Typ des ideologisch geprägten Schreibtischtäters im totalitären 20. Jahrhundert« zu charakterisieren.
Zutreffender ist die Beschreibung am Schluss von der »janusgesichtigen Gestalt«, die Opfer des Stalinismus wurde und gleichzeitig als Täter das Repressionssystem massiv befördet hatte. Doch bei aller Kritik ist es ein Glücksfall, dass diese Biografie jetzt vorliegt, erlaubt sie doch endlich eine gründliche Beschäftigung mit einer der schillerndsten Gestalten des 20. Jahrhunderts.
Wolf-Dietrich Gutjahr: »Revolution muss sein. Karl Radek – die Biografie«. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2012, 948 S., 79,90 €