»Er ist bei den Milchprodukten!« Aufgeregt und verschämt zugleicht lugt Shira im koscheren Supermarkt zwischen den Regalen hervor. Die 18-Jährige hat soeben zum ersten Mal den jungen Mann gesehen, der nach dem Willen der Eltern ihr Bräutigam werden soll. Shira lebt in einer chassidischen Gemeinschaft in Tel Aviv, in der Ehen arrangiert werden. Von Liebesdingen und dem erotischen Wirrwarr der säkularen Welt hat die junge Frau keine Ahnung. Sie ist überzeugt, ihren »Bescherten« am Kühlregal zu sehen.
Doch dann stirbt ihre Schwester bei der Entbindung, und Shira wird vor eine schwere Entscheidung gestellt. Denn ihre Familie will jetzt, dass sie ihren verwitweten Schwager Yochay heiratet. Es ist vor allem Shiras Mutter, die die Vermählung forciert. Aus Eigennutz: Sie will nicht, dass der Schwiegersohn einer Heiratsofferte aus Belgien folgt und den neugeborenen Enkel nach Europa mitnimmt.
binnenperspektive Aus der den meisten Menschen unbekannten Binnenperspektive des charedischen Milieus fragt der israelische Film An ihrer Stelle, der diese Woche in den deutschen Kinos anläuft, nach Glück und Sinn des Lebens. Sieht man Shiras Familie und Gemeinde bei ihren Festen und Zusammenkünften – von einem möglichen Berufsalltag erfährt man nichts –, schaut man wie durch ein Guckloch in diese abgeschlossene Welt, in die nur zur Nachtzeit das säkulare Leben als Diskothekenlärm durch die Fensterläden dringt.
In der englischsprachigen Fassung heißt Rama Burshtein Drama von 2012 Fill the Void. »Void«, das ist die Leere, die Shira doppelt füllen soll: die an Yochays Seite, aber auch die Lücke in der charedischen Gemeinschaft. Denn, das zeigt der Film, das Primat in der ultraorthodoxen Welt hat immer die Gemeinschaft, in die sich die Individuen fügen und innerhalb derer durch Rituale bestimmten Ordnung sie ihren Platz und ihr Glück suchen. Ritualisiert laufen hier selbst die persönlichen Trauerbekundungen ab.
unparteiisch Rama Burshtein, die selbst aus dem charedischen Milieu kommt, will mit An ihrer Stelle nach eigenem Bekunden der Ultraorthodoxie eine »kulturelle Stimme« verleihen. Für die Regisseurin sind, wie sie in einem Interview sagte, die traditionellen Schidduchim die bessere Art der Partnerfindung. Daraus aber macht sie – und das ist die Stärke des Films – kein propagandistisches Dogma. Burshtein zeigt auch die Widersprüchlichkeit dieser Form der Partnersuche. Zwar sind Schidduchim keine Zwangsverheiratung: Die Eltern schlagen Kandidaten vor, die Kinder haben die Möglichkeit, nach einem Kennenlernen zuzustimmen oder aber auch abzulehnen. Aber natürlich läuft ein solches Verfahren nicht ungezwungen ab. Allein schon die Erwartungshaltung der Familie ist Druck genug, wie in Shiras Fall.
Die Erzählperspektive des Films ist klar weiblich. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen die Frauenrunden, die oft ungezwungenen Gespräche zwischen weiblichen Verwandten und Freundinnen. Aus diesem Blickwinkel fallen dann allerdings die patriarchalen Strukturen besonders auf, welche die charedische Gemeinschaft prägen. Männer geben hier den Ton an, nicht nur beim Gebet. Frauen gelten erst als Verheiratete etwas.
So bekommt eine ledige Freundin Shiras bei jeder Hochzeit mantraartig zu hören: »Mögest du die nächste sein.«
Trotz Burshteins eigener Position nimmt sie in ihrem Film nicht Partei. Das verleiht ihm seinen erstaunlichen Reiz. Die Regisseurin lässt in statischer Szenenfolge, die an den durchritualisierten Jahreskreis der Frommen erinnert, eine für Außenstehende faszinierend-befremdliche Lebenswelt ablaufen. Shiras Schicksal berührt – verstehen muss man es dazu nicht.
Lesen Sie dazu auch unsere Redezeit mit der Regisseurin Rama Burshtein und der Hauptdarstellerin Irit Sheleg.
https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/judentum-heisst-weiterleben/