Jordanien ist in Bewegung. Jedes Jahr wandert das Haschemitische Königreich knapp zwei Zentimeter nach Norden. Rund 65 Kilometer hat das Land in den vergangenen 25 Millionen Jahren schon zurückgelegt. Was einmal auf der Höhe von Jerusalem lag, befindet sich heute vis à vis vom See Genezareth. Und eines Tages könnte Saudi-Arabien ein direkter Nachbar des jüdischen Staates werden.
Natürlich gehen diese Wanderungen ganzer Staaten nicht ohne Spannungen über die Bühne. Doch sind sie nicht politischer, sondern tektonischer Natur. Denn tief unter dem Jordangraben reiben zwei Kontinentalplatten aneinander und sorgen dafür, dass die Region regelmäßig von Erdbeben heimgesucht wird. Zuletzt wackelten in Tel Aviv im Februar 2004 die Wände, und die Knesset in Jerusalem bekam einen Riss, als sich nahe des Toten Meeres ein Beben der Stärke 5,1 ereignete. Ernsthafte Blessuren erlitt niemand, und der letzte Erdbebentote wurde in Israel 1995 registriert, als bei leichten Erdstößen nahe Eilat ein Mann eine Herzattacke bekam.
Aber es kann auch anders kommen: 1837 starben bei einem Erdbeben allein in der Stadt Safed mindestens 5.000 Menschen. Und 1927 kamen über 500 Personen bei Erdstößen der Stärke 6,4 ums Leben. Wie in Kalifornien lautet daher auch in Israel die Frage nicht, ob eine ähnliche Katastrophe wieder passieren kann, sondern nur wann.
»Viele Erdbeben mit ganz besonders großer Zerstörungskraft ereignen sich nach einer langen Ruhephase«, erklärt Schmuel Marco, Professor für Geophysik an der Universität Tel Aviv. »Diese bezeichnen wir als seismische Lücke. Und dass so lange Ruhe herrschte, gibt eher Anlass zur Sorge.« Gerade in der Diskussion, ob in Israel Atomkraftwerke gebaut werden sollen, stellt sich die Frage, ob diese denn auch erdbebensicher wären (vgl. JA vom 17. März).
sedimente Marco weiß, wovon er spricht. Denn ihm und seinem Forschungsteam ist es gelungen, der Geschichte der Erdbeben auf den Grund zu gehen. »Dank des Seismografen können wir seit rund 110 Jahren die Stärke von Erdbeben messen. Doch über Erdstöße aus den Jahrhunderten davor lassen sich kaum konkrete Aussagen machen.« Deshalb entwickelte er ein Verfahren, um auf Basis der Veränderungen in den einzelnen Sedimentschichten sagen zu können, wann und mit welcher Stärke sich ein Erdbeben in der Vergangenheit ereignet hat.
Dazu nahm Marco mit seinen Kollegen Eyal Hefetz und Nadav Wetzer die verschiedenen Schlammablagerungen auf dem Grund eines Urzeitsees unter die Lupe, der einmal im Gebiet des heutigen Toten Meeres existiert hatte. Fein säuberlich und klar zu erkennen lagerte sich dort über mehr als 70.000 Jahre Schicht auf Schicht Schlamm ab. Aber immer wieder lassen sich Einbrüche von schweren in die leichten Sedimentschichten beobachten. Über 300 solcher Deformationen werteten die Forscher aus und kamen zu dem Schluss, dass nur Erdbeben dafür verantwortlich sein können.
Manche dieser Verwerfungen beginnen als leichte Wellen, die sich zu komplexen Falten weiterentwickeln, um anschließend instabil zu werden und zu fragmentieren. »Je stärker diese Deformationen ausgeprägt sind, desto heftiger muss das Erdbeben ausgefallen sein«, lautet Marcos These. Erdstöße aus über 120.000 Jahren lassen sich so datieren. »Die Archäologie kann über solche Ereignisse nur aus den letzten 3.000 Jahren berichten«, sagt Marco nicht ohne Stolz.
Das neue Verfahren ist besonders für Regionen interessant, deren Aufzeichnungen nicht alt genug sind, um Informationen über Frequenz und Stärke von Erdbeben in der Vergangenheit zu erhalten. Auf diese Weise bietet die Analyse der Sedimentschichten die Möglichkeit, Vorhersagen über mögliche Erdstöße in der Zukunft zu machen und entsprechende Vorsorgemaßnahmen einzuleiten.
warnung Schmuel Marco ist nicht der einzige israelische Forscher auf dem Gebiet. Elisa Kagan von der Hebräischen Universität hat ebenfalls eine Methode entwickelt. Sie untersuchte herabgefallene Stalaktiten in Höhlen nahe der Stadt Beit Schemesch und konnte auf diese Weise feststellen, dass in den vergangenen 200.000 Jahren 13 Erdbeben mit einer Stärke von mehr als 7,5 auf der Richterskala stattgefunden hatten. »Das letzte liegt schon mehr als 4.000 Jahre zurück«, sagt Kagan. »Wir vermuten daher, dass die prähistorischen Beben in der Region stärker waren als die späteren.«
Das ist jedoch kein Grund zur Entwarnung. »Bereits die verheerenden Waldbrände auf dem Carmel haben gezeigt, wie schlecht Israel auf Katastrophen vorbereitet ist«, so Marco. Er ist nicht der Einzige, der sich Sorgen macht. Erst vor wenigen Tagen hat Micha Lindenstrauss, Leiter des israelischen Rechnungshofs, darauf hingewiesen, dass trotz des Wissens über das Gefahrenpotenzial von Erdbeben vom Staat so gut wie nichts unternommen wurde.
Zwar wurde 2008 beschlossen, bis 2033 umgerechnet 700 Milliarden Euro für Sicherheitsmaßnahmen auszugeben, doch bis dato ist noch kein Schekel geflossen. »Ein schwerer Fehler«, sagt auch Marco, der die Erdstöße der jüngsten Vergangenheit höchstens als mittelschwer bewer- tet. »Nur in den Jahren 31 v.u.Z. sowie 363, 749 und 1033 u.Z. gab es richtig starke Erdbeben, die die Region völlig verwüsteten.« Das Durchschnittsintervall ist knapp 400 Jahre. Daher lautet Marcos wenig optimistische Einschätzung: »Das letzte große Beben ist rund 1.000 Jahre her, und das nächste hat bereits eine Verspätung von 600 Jahren.«