»Es hat auf jeden Fall was von einer Selbsthilfegruppe«, sagt ein Wagner-Fan. Von einer »Doktrin der totalen Weltanschauung« spricht der zweite, während ein dritter es so formuliert: Bei der Musik des Meisters fühle er sich »so wohl wie in ’nem Vollbad mit Schaum drauf«. In seinem Film Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt schlägt Axel Brüggemann, Musikjournalist und Autor der Jüdischen Allgemeinen, einen großen Bogen über die ganze Welt.
TÜRÖFFNER Brüggemann zeigt, was Menschen von Lettland über die USA, Israel und Abu Dhabi bis nach Japan mit dem Komponisten Richard Wagner (1813–1883) verbindet. An mancher Stelle hätte eine Kürzung nicht geschadet. Ansonsten ist der Film ein erstklassiger Türöffner für alle Kulturinteressierten, die sich immer schon gefragt haben, was der Hype um Richard Wagner heute noch soll.
Wer um den Ring des Nibelungen beziehungsweise um Bayreuth bisher einen großen Bogen gemacht hat, wird in dieser Dokumentation mitgenommen in eine Welt, die wohl die meisten nur aus dem Fernsehen kennen – etwa wenn Angela Merkel die Bayreuther Festspiele besucht.
Der Film gibt spannende Einblicke hinter die Kulissen: Brüggemann hat Festspielleiterin Katharina Wagner, Dirigent Christian Thielemann und Regisseur Barrie Kosky bei ihrer Arbeit in Bayreuth über die Schulter geschaut. Er zeichnet die Entwicklung der Festspiele in den vergangenen Jahren nach – und dass es für Kosky zunächst alles andere als selbstverständlich war, in Bayreuth zu inszenieren.
ANTISEMITISMUS In seiner 1850 erstmals erschienenen Schrift »Das Judenthum in der Musik« hatte Wagner geschrieben, der Jude an sich sei »unfähig«, sich künstlerisch auszudrücken, weder durch seine äußere Erscheinung noch durch seine Sprache und am allerwenigsten durch seinen Gesang. »Wagner war ein politischer Mann. Heute zu sagen, Antisemitismus hat nichts zu tun mit seiner Bühnenarbeit, ist kompletter Quatsch! Zu sagen, dass man deshalb keine Note dieses Mannes spielen dürfe, ist auch Quatsch«, befindet Kosky im Film.
Doch Brüggemann spricht nicht nur mit Stars und Wagner-Aktivisten, sondern auch mit Wachleuten, die im Festspielhaus arbeiten, und mit der fränkischen Metzgerfrau Ulrike Rauch, die dort zusammen mit ihrem Mann regelmäßig Generalproben besucht.
Dass sich Richard Wagner in München nicht auf Dauer etablieren konnte und das Festspielhaus in Bayreuth entstand, sei ein großes Glück, befindet Frau Rauch. Denn wo stünde die kleine Stadt ohne die Wagners? »Ich bin stolz, dass wir die haben. Weil, sonst wären wir gar nichts«, glaubt sie. Die Szenen mit dem Ehepaar – teilweise an der Wursttheke, teilweise im heimischen Wohnzimmer gedreht – gehören zu den stärksten der Dokumentation.
ISRAEL Ein weiteres Highlight ist das Interview mit Jonathan Livny, dem Vorsitzenden der 2010 gegründeten Wagner-Vereinigung in Israel. Livny, der 2012 vergeblich versucht hatte, das erste große Wagner-Konzert seines Landes in Tel Aviv zu organisieren, berichtet von 87 Schallplatten, die sein Vater bei dessen Auswanderung aus Deutschland in den 30er-Jahren mit nach Palästina »geschleppt« hatte.
Der Vater sei nach dem Krieg nie wieder nach Bayreuth gefahren. Er selbst hingegen mehrmals, denn seinen Musikgeschmack lasse er sich nicht von Adolf Hitler diktieren. Schon als fünfjähriger Junge hörte der kleine Jonathan die Platten seines Vaters und lernte, die Musik zu lieben. »Wer hat das geschrieben?«, fragte der Junge damals, und sein Vater antwortete ihm: »Er war ein scheußlicher Mensch, der himmlische Musik geschrieben hat.«
Der Film »Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt« läuft seit 28. Oktober in den Kinos.