Kein akuter Modetrend. Keine Verlagsdirektive, mutmaßliche Publikumserwartungen wie Familiengeschichten, Borderline-Berichte oder offenherzige erotische Grenzüberschreitungen zu erfüllen. Stattdessen: ein diffizil auszusprechender Titel.
Eine Handlung, die im zweiten nachchristlichen Jahrhundert spielt. Und die Protagonisten sind: Ziegenhirten, tote Krokodile, ägyptische Priester, jüdische Piraten. Anders ausgedrückt: ein famoses Leseglück.
Denn was Pavel Feinstein, von Haus aus Maler und Zeichner, mit Krokodilopolis, seinem Debütroman – im stolzen Alter von 60 Jahren! – präsentiert, bedient keine marktgängigen Kategorien. Zum Glück für ihn wie für uns. Denn dieser Roman mit 17 barock betitelten Kapitelüberschriften überragt vieles, was sonst erscheint.
Grabungen Es ist ein Schelmenroman, wie Grimmelshausens Der abenteuerliche Simplicissimus oder Jaroslav Haseks Der brave Soldat Schwejk, Saul Bellows Die Abenteuer des Augie March, Günter Grass’ Die Blechtrommel oder die zwei ewigen Geheimtipps, Albert Vigoleis Thelens Mallorca-Epopöe Die Insel des zweiten Gesichts und John Kennedy Tooles Die Verschwörung der Idioten, in jüngerer Zeit Umberto Ecos Baudolino.
Wir lesen die Memoiren eines jüdischen vagabundierenden Künstlers Ende des 2. Jahrhunderts.
Und so postmodern verspielt wie Eco setzt auch Feinstein ein. 1936: Bei archäologischen Grabungen in Galiläa wird eine Grabkammer entdeckt, darin menschliche Knochen, ein mumifiziertes Nilkrokodil und vier Tontöpfe mit Pergamentrollen. Nach einer Odyssee wird Jahrzehnte später das beschriftete Pergament entziffert.
Es sind die Memoiren eines jüdischen vagabundierenden Künstlers Ende des 2. Jahrhunderts. Was wir dann auf 200 Seiten lesen, ist eine lebendige Wiedergabe ebendieser abenteuerlichen Lebensroute vom winzigen Dorf namens Anus Mundi nach Caesarea, Alexandria und Karthago.
Zeichnungen Der Ich-Erzähler wird zum erfolgreichen Künstler, tut sich mit dem Bildhauer Shimon zusammen, dann mit einer bunt gemischten Entourage, ihn verschlägt es in einen ägyptischen Krokodilstempelort, wo er heilige Exemplare porträtieren muss, später begegnet er den Satirikern Apuleius und Lukian, findet Liebe und Freunde und am Ende Ruhe.
Feinstein, 1960 in Moskau als Sohn eines Architekturprofessors geboren, wuchs in Duschanbe in Tadschikistan auf, emigrierte mit 20 Jahren nach West-Berlin, wurde an der dortigen Kunstakademie zum Maler ausgebildet, hat bis heute viele Ausstellungen. 2008 brachte er, dessen Atelier in Berlin-Wilmersdorf einst das von George Grosz war, ein Buch heraus mit Bleistiftskizzen aus dem Berliner Zoo.
Auch Krokodilopolis ist mit vielen Kohlezeichnungen ausgestattet. Feinsteins Ölgemälde sind gesättigt mit kunsthistorischen Anspielungen und visueller, an Alten Meistern wie an Paul Cézanne geschulter Finesse und dichter Raffinesse. Gleiches gilt für seine Prosa. Ein unbändiges, listiges und feinsinniges Lesevergnügen.
Pavel Feinstein: »Krokodilopolis«. Hirmer, München 2020, 224 S., 19,90 €