Geschichte

Scharfe Beobachterin

Preisträgerin Anne Applebaum Foto: picture alliance / abaca

Für manche ist bereits ihre Biografie irritierend. So hat die 1964 in Washington als Tochter jüdischer Eltern geborene Anne Applebaum nicht nur russische Geschichte und Literatur studiert, bevor sie vor über 30 Jahren für das britische Magazin »The Economist« als Korrespondentin nach Polen ging. Mittlerweile ist die amerikanische Historikerin und Publizistin auch polnische Staatsbürgerin. Denn seit 1992 ist sie mit Radosław Sikorski verheiratet, derzeit zum zweiten Mal Außenminister des Landes.

Am Dienstag wurde bekannt, dass Applebaum den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten wird. »Die polnisch-amerikanische Historikerin und Publizistin hat mit ihren so tiefgründigen wie horizontweitenden Analysen der kommunistischen und postkommunistischen Systeme der Sowjetunion und Russlands die Mechanismen autoritärer Machtergreifung und -sicherung offengelegt«, heißt es in der Begründung der Jury. Das ist fast schon eine Untertreibung.

Denn es ist definitiv Applebaums Verdienst, dass der Begriff »Holodomor« endlich auch in Deutschland bekannter wurde, und zwar dank ihres 2017 veröffentlichten Buches Red Famine, 2019 unter dem Titel Roter Hunger: Stalins Krieg gegen die Ukraine auch auf Deutsch erschienen. Darin schildert sie, mit welchen Mitteln der Diktator vor allem die Ukraine im wahrsten Sinne des Wortes aushungern ließ. »Es war ein geplanter und angeordneter Massenmord«, betonte Applebaum im Deutschlandfunk.

In Putins Russland ist das Thema Holodomor weiterhin ein Tabu

In Putins Russland ist das Thema weiterhin ein Tabu. Aber nicht nur das. »Russland ist eine frustrierte, revanchistische Macht, die mit der 1989/1991 entstandenen Ordnung in Europa unzufrieden ist und sie umstürzen möchte«, so Applebaums Einschätzung des Systems Putin in einem Interview mit der »Neuen Zürcher Zeitung«. »Es will die EU untergraben, die Amerikaner zum Abzug aus Europa bringen und die Demokratie einzelner Staaten schwächen, unter anderem in Frankreich und Deutschland.«

Der »Putinismus« als autoritäre Bewegung war für sie längst ein Thema, als andere von dem russischen Präsidenten noch als »lupenreinem Demokraten« sprachen. Wenig überraschend ist es daher, dass Applebaum zu den Personen zählt, die mehr militärische Unterstützung für die Ukraine fordern.

So hatte sie in einem Interview mit der »Frankfurter Rundschau« das Verhalten von Bundeskanzler Olaf Scholz in dieser Frage als »peinlich« und »schädlich« bezeichnet. Und wenig überraschend ist es auch, dass sie genau deshalb in einigen Milieus hierzulande als »Kriegstreiberin« diffamiert wurde, beispielsweise, als die Historikerin dieses Jahr den Carl-von-Ossietzky-Preis erhalten sollte. AfD- oder Bündnis-Sahra-Wagenknecht-Anhänger dürfte die Entscheidung der Jury in Frankfurt daher ebenfalls auf die Palme bringen.

Denn Applebaums Sorgen gelten vor allem der westlichen Wertegemeinschaft, die sie nicht nur durch Putin in Gefahr gebracht sieht, sondern ebenfalls durch Populisten mit autokratischen Tendenzen. »Trump wird die Nato aufgeben«, warnte sie daher kürzlich in einem Beitrag in »The Atlantic« vor dessen Wiederwahl. Eine solche hätte ihrer Einschätzung zufolge nicht nur verheerende Folgen für die Ukraine, sondern für ganz Europa.

Eng verbunden ist Anne Applebaum ebenfalls mit ihrer Wahlheimat Polen. Die politischen Entwicklungen des Landes hat sie immer kritisch begleitet. Wenig bekannt dagegen dürfte ein anderes Buch sein, dass sie im Jahr 2012 mit herausgegeben hat: Aus der polnischen Landhausküche: 90 Rezepte für das ultimative Comfort Food, so lautet der Titel übersetzt.

Kerrville

Kinky Friedman ist tot

Der Künstler galt als der »Frank Zappa der Country Musik«

 28.06.2024

Raub- und Fluchtgut

Raphael Gross: Bührle-Stiftung machte ungenügende Arbeit

Emil Bührle profitierte als Waffenhändler und Kunstsammler doppelt von den Verbrechen der Nazis. Seine Stiftung hat diese Geschichte noch nicht ausreichend aufgearbeitet

von Nils Kottmann  28.06.2024

Gastbeitrag

Kunsthaus Zürich muss Herkunft von NS-Raubkunst erforschen

Der Bericht zur Sammlung Bührle ist eine Ansage, so Jonathan Kreutner

von Jonathan Kreutner  28.06.2024

Meinung

Die Verantwortung der Öffentlich-Rechtlichen

Der ÖRR sollte nicht die Existenzberechtigung von Juden und Israel canceln

von Jacques Abramowicz  27.06.2024

Streaming

Glamour und Krisen

Diane von Fürstenberg ist mehr als eine Designerin. »Woman in Charge« gibt Einblicke

von Katrin Richter  27.06.2024

Sehen!

»Auf nach Italien!«

Eine Ausstellung in Berlin zeigt Max Liebermanns Bilder des Landes, wo die Zitronen blühen

von Sophie Albers Ben Chamo  27.06.2024

Musik

Auf einer Welle

Vier Solisten und die Berliner Symphoniker geben in der Philharmonie in Berlin ein Konzert, das jüdische und klassische Musik vereinen will – und es schafft

von Katrin Richter  27.06.2024

Ulm

Neues Ulmer Museum widmet sich Einsteins Familie

Neben Einstein-Figuren und Briefmarken wird ein Lego-Modell seines Geburtshauses zu sehen sein

 26.06.2024

Hören!

»La Juive«

Die Grand opéra von Fromental Halévy, die jetzt in Frankfurt gezeigt wird, ist ein hochpolitisches Opernerbstück aus dem 19. Jahrhundert

von Joachim Lange  26.06.2024