Literatur

Schande fur di Gojim!

Foto: Getty Images/iStock

Als der New Yorker jüdische Anlageberater Bernard Madoff am 11. Dezember 2008 verhaftet wurde, weil er seine Kunden um die Rekordsumme von 65 Milliarden Dollar betrogen hatte, war der erste Reflex unter Amerikas Juden Sorge. Man könnte auch sagen Angst. »Bernard Madoff ist das, was die Antisemiten sich vom Nikolaus gewünscht haben«, fasste Bradley Burston in der israelischen Zeitung »Haaretz« die Stimmung zusammen. Und Abraham Foxman, damals Chef der Anti-Defamation League, nannte die Affäre einen »idealtypischen Fall für Judenhasser«.

Ähnlich die Reaktionen im Oktober 2017, als bekannt wurde, dass Harvey Weinstein, einer der mächtigsten Hollywood-Produzenten, über Jahre und Jahrzehnte zahlreiche Frauen vergewaltigt und sexuell belästigt hatte, unter ihnen Stars wie Gwyneth Paltrow, Salma Hayek, Angelina Jolie und Uma Thurman. Wieder wurde von jüdischer Seite die potenzielle antisemitische Dimension des Falls beschworen. »Harvey Weinsteins Visage ist das jüdische Traumbild eines jeden Antisemiten«, kommentierte Anne Bayefsky, die Direktorin des Touro-Instituts für Holocauststudien, auf »Fox News«: »Fett, hässlich und ungepflegt. Ganz zu schweigen von Gier, Narzissmus und ekliger Völlerei. Kein Hollywood-Maskenbildner hätte es besser hinbekommen können.«

REFLEXE Schwarze Schafe sind jeder ordentlichen Familie peinlich. Lieber schmückt man sich mit angesehener Verwandtschaft. Auch die Hannoveraner nennen als berühmten Bürger ihrer Stadt eher den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz als den Serienkiller und Kannibalen Fritz Haarmann. Im jüdischen Fall aber ist es mehr als bloße Sorge vor der Blamage, die den Umgang mit Kriminellen aus den eigenen Reihen so heikel macht. Fast 2000 Jahre als verfolgte Minderheit haben im kollektiven Bewusstsein der Diaspora einen Angstreflex hinterlassen: um des Überlebens willen alles vermeiden, was dem Antisemitismus einen Vorwand liefern könnte.

Und was könnte Judenhassern gelegener kommen als jüdische Kriminelle? Deshalb schwingt, wenn Juden über Figuren wie Madoff oder Weinstein sprechen, oft der Vorwurf mit, dass neben ihren eigentlichen Taten ihr größtes Verbrechen gewesen ist, Schmach über ihr Volk gebracht zu haben. »Schande fur di Gojim«, wie es auf Jiddisch heißt: eine Schande vor den Nichtjuden. Nicht zufällig wohl widmet Oppenheimers und Bin Gorions Lexikon des Judentums von 1971 dem Stichwort »Kriminalität« gerade einmal eine halbe Seite; für die Musiker sind es elf.

Oft schwingt der Vorwurf mit, dass jüdische Verbrecher auch Schmach über ihr Volk bringen.

Die Schande ist umso größer, wenn es sich um Taten handelt, die judenfeindlichen Stereotypen entsprechen. Der raffinierte jüdische Gauner und der geile jüdische Mädchenschänder gehören zum Grundrepertoire des Antisemitismus. »Betrug, Wucher, Bankrott, Hehlerei sind typisch jüdische Verbrechen. Unverhältnismäßig hoch ist der Anteil des Judentums an ... Unzuchtsdelikten«, heißt es beispielsweise in Der Jude als Verbrecher von J. Keller und Hanns Andersen (1937). Madoff und Weinstein passen perfekt in dieses Zerrbild, zur Freude der Antisemiten und zur Bestürzung der Juden.

Deshalb fällt deren Verdammungsurteil möglicherweise so viel härter aus als das über andere Verbrecher aus den eigenen Reihen. Die gab und gibt es zwar zuhauf, vor allem in den USA. Arnold Rothstein baute Anfang des 20. Jahrhunderts mit Wettbetrug und Alkoholschmuggel ein kriminelles Imperium auf; F. Scott Fitzgerald hat ihn in seinem Roman Der große Gatsby als »Meyer Wolfsheim« verewigt. Rothsteins Schüler Meyer Lansky war jahrzehntelang zusammen mit Lucky Luciano der Kopf der organisierten Kriminalität in den USA, die praktisch ein jüdisch-sizilianisches Joint Venture war. Benjamin »Bugsy« Siegel verwandelte mit Mafiageld das Wüstenkaff Las Vegas in ein Zockerparadies. Doch die jüdisch-amerikanische Mafia der 30er-Jahre genießt inzwischen dank Filmen wie Es war einmal in Amerika und Fernsehserien wie Boardwalk Empire so etwas wie nostalgischen Kultstatus.

MAFIA Möglicherweise spielt da mit, dass die »tough Jews« der »Kosher Nostra« das Klischee des feigen Juden so augenfällig widerlegen. Mickey Cohen etwa, der Boss der organisierten Kriminalität in Los Angeles (und finanzieller Förderer von Menachem Begins Irgun), hatte seine Karriere als Preisboxer begonnen. Die amerikanisch-jüdischen Mafiosi des 20. Jahrhunderts waren, wie ihre italienischen und irischen Kollegen, Gewaltverbrecher. Sie mordeten und raubten mit der Waffe in der Hand. Anstand kann man diesen Männern absprechen; Mut nicht. Und nicht zuletzt waren sie offen kriminell. Madoff und Weinstein dagegen handelten heimlich und hinterrücks, getarnt hinter der Fassade des angesehenen Zeitgenossen. Ganz wie aus dem Lehrbuch des Antisemitismus. Wobei selbst ihre bürgerlichen Berufe für Judenfeinde schon einen gewissen Hautgout hatten: Anlageberater der eine, Filmproduzent der andere – klassische Strippenzieherrollen.

Paradoxerweise tauchten derartige Assoziationen nach Bekanntwerden der Fälle Madoff und Weinstein öffentlich jedoch kaum auf. Gibt man bei Google die Stichworte »Madoff« beziehungsweise »Weinstein« und »Jew« ein, kommen – sieht man von dem lunatic fringe der Hardcore-Judenhasser wie dem »Black Muslim«-Führer Louis Farrakhan oder dem Ku-Klux-Klan-Häuptling David Duke einmal ab – hauptsächlich jüdische Fundstellen. Nicht neuer Antisemitismus war offenbar die Folge der Skandale, wohl aber die Angst vor ihm, die in zahlreichen Wortmeldungen beschworen wurde.

PROJEKTION Am weitesten ging dabei Mark Oppenheimer, der in einem halb satirisch gemeinten, aber von vielen so nicht verstandenen Kommentar in dem angesehen jüdischen Online-Magazin »Tablet« von der »spezifisch jüdischen Perversität Harvey Weinsteins« schrieb. Weinstein, so Oppenheimer, sei der Realität gewordene Alexander Portnoy aus Philip Roths Roman, der an nichtjüdischen Frauen seine jüdischen Machtfantasien austobe: »All die Jahre, die er nach unerreichbaren Nichtjüdinnen gelüstete, aber zuvor noch nie die Mittel hatte, sie zu locken.« So denke es wahrscheinlich im Antisemiten, schob Oppenheimer später nach. Weil aber kein realer Judenhasser das so oder ähnlich wirklich gesagt hatte, war der Autor selbst – und sehr gelungen – in die Mentalität eines Antisemiten geschlüpft.

Spezifisch jüdisch ist die Angst, Vergehen könnten als »typisch jüdisch« gesehen werden.

Paranoia? Projektion? Selbsthass? In extremer Form brachte Mark Oppenheimer eine amerikanisch-jüdische Mentalität auf den Punkt. Nirgends auf der Welt und nie zuvor in der Geschichte sind Juden derart in der Mehrheitsgesellschaft angekommen wie in den USA. Amerikas Juden sind das Musterbeispiel einer gelungenen Assimilation. Doch kratzt man am Firnis des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Erfolges, kommen die Urgroßeltern zum Vorschein, die dem Ghetto glaubten zu entkommen, es aber mit sich über den Atlantik brachten.

»Schande fur di Gojim«, dieser unter amerikanischen Juden so geläufige Begriff, kommt aus dem Jiddischen, der Sprache der entrechteten Schtetljuden Polens und Russlands. Für sie war das nächste Pogrom nur eine Frage der Zeit. Und ihre Urenkel scheinen, allem Erfolg in der »Goldenen Medine« USA zum Trotz, unterbewusst ihre Existenz als genauso prekär zu empfinden.

DIASPORA Nach allen Statistiken der Kriminologie sind Madoffs und Weinsteins Taten nicht spezifisch jüdisch. Spezifisch jüdisch ist die Angst, sie könnten von den Nichtjuden so gesehen werden. Genauer: Sie ist spezifisch diasporajüdisch. Auch in Israel hat die Tatsache, dass Madoff und Weinstein Juden sind, natürlich für besonderes Interesse an ihren Fällen gesorgt. Die Aufmerksamkeit war allerdings vor allem voyeuristischer Natur. Angstbesetzt, wie in den USA, war sie nicht.

Chaim Bialik, der hebräische Nationaldichter, hat lange vor der Gründung des Landes geschrieben, der jüdische Staat werde nur dann ein normales Gemeinwesen sein, wenn es dort auch jüdische Diebe und jüdische Prostituierte gebe. Mag vieles am zionistischen Projekt nicht so gelaufen sein, wie es die Gründerväter erhofft hatten: Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen. In Israel gibt es jüdische Verbrecher, die von jüdischen Polizisten gefasst, von jüdischen Richtern verknackt und von jüdischen Schließern in jüdischen Knästen eingesperrt werden. Von »Schande fur di Gojim« spricht dabei niemand.

Der Text ist ein Auszug aus »Jüdischer Almanach. Sex & Crime – Geschichten aus der jüdischen Unterwelt«, der am 28. Oktober im Suhrkamp-Verlag erscheint.

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