Dieser Film enthält Szenen, die sensible Zuschauer schockieren könnten.» Für manche Besucher klingt dieser Hinweis im Katalog vermutlich wie eine Werbebotschaft. Für andere wiederum ist er eher Grund, den Film zu meiden. Doch beide Gruppen könnten enttäuscht sein, wenn sie sich jetzt Tikkun ansehen, den fesselnden israelischen Beitrag im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden von Locarno.
Der Film von Avishai Sivan handelt von Haim-Aaron, einem ultraorthodoxen Studenten, dessen Intellektualität und religiöser Scharfsinn von allen in seiner Umgebung ebenso bewundert werden wie seine Frömmigkeit. Doch eines Tages bricht der junge Mann nach einer selbst auferlegten Fastenzeit zusammen, verliert das Bewusstsein und wird vom Notarzt für tot erklärt.
Dibbuk Sein Vater will das nicht glauben, übernimmt die Reanimierung, und tatsächlich wacht Haim-Aaron entgegen allen Prognosen wieder auf. Aber er ist verändert: Er wird von Albträumen gequält, zweifelt zum ersten Mal an Gott und erlebt ein plötzliches Erwachen seiner Sexualität. Was ist geschehen? Stellt Gott ihn auf die Probe? Bestraft Gott den Vater, weil er seinem Willen zuwidergehandelt hat? Hat Haim-Aaron mit dem Trauma einer Nahtoderfahrung zu kämpfen, oder ist er in Wirklichkeit gar ein Dibbuk?
Auf Hebräisch bedeutet «Tikkun» so viel wie «Verbesserung». «Aber es gibt noch eine zweite religiöse Bedeutung: die Idee der Wiedergeburt und der Erlösung einer Seele, bevor sie ins Jenseits übergehen kann», sagt der Regisseur. Tikkun ist nicht nur der zweite Spielfilm des 1977 geborenen Avishai Sivan, der mit seinem Debüt The Wanderer 2010 gleich eine Einladung auf die Filmfestspiele von Cannes erhielt und beim Jerusalem-Filmfestival mit dem Preis für das «Beste Debüt» prämiert wurde. Es ist auch der zweite Teil seiner Trilogie über jüdisch-orthodoxes Leben und Glaubenskrisen, eine Geschichte auf Leben und Tod, angesiedelt in einer Gesellschaft mit rigiden, klaren Regeln.
Mit insgesamt großer jüdischer Beteiligung hat am Mittwoch dieser Woche das Filmfestival von Locarno seine Tore geöffnet. In der Jury des Wettbewerbs um den Goldenen Leoparden sitzen der israelische Regisseur Nadav Lapid (Jahrgang 1975), der 2011 für seinen Film Ha’shoter in Locarno einen Silbernen Leoparden gewann. Der Film startete später auch im deutschen Verleih. Mit ihm zusammen entscheidet auch Jerry Schatzberg über die Preise, eine Legende des unabhängigen amerikanischen Kinos. Schatzberg, geboren 1927, wuchs in der New Yorker Bronx auf und arbeitete als Fotograf für renommierte Magazine wie Vogue und Esquire.
Legende Von Anfang an gehörte Schatzberg zu der – vor allem jüdisch und italo-amerikanisch geprägten – Bewegung des «New Hollywood»-Kinos, die nach dem Zusammenbruch des Studiosystems seit Ende der 60er-Jahre das US-Kino revolutionierte. Sein zweiter Film, das Drogendrama Panik in Needle Park, machte Al Pacino genauso bekannt wie seinen Regisseur. Mit seinem nächsten Film Asphalt-Blüten (Hauptrollen: Gene Hackman und Al Pacino) über zwei Tramps gewann Schatzberg 1973 die Goldene Palme in Cannes. Es folgten weitere Filme und Cannes-Teilnahmen sowie ein Buch über Bob Dylan. Zugleich blieb der inzwischen 88-jährige Schatzberg bis heute ein gefragter Fotograf.
Wie alle Jurymitglieder zeigen er und Lapid auch eigene Filme. Lapid hat sogar (neben seinem letzten Spielfilm The Kindergarten Teacher) seinen neuen Kurzfilm Lama? mitgebracht – einen Film über die Macht des Kinos, der Pasolinis existenzialistisches Werk Teorema mit der Erfahrung in der israelischen Armee konfrontiert.
Zu den Nachwuchshoffnungen des israelischen Kinos gehört auch Osi Wald, wie Lapid Absolventin der Sam Spiegel Film & Television School in Jerusalem. Ihr Werk Shikuf (Reflection) läuft im Kurzfilmwettbewerb und erzählt von einem israelischen Schauspieler, der eine Rolle in einer großen Hollywood-Produktion erhält. Für ihn wird der Trip nach Amerika zu einer Reise vom einen Gelobten Land ins andere.
anarchisten In den drei Wettbewerben und den Nebenreihen des Festivals in Locarno sind in den nächsten zehn Tagen noch eine ganze Reihe von Filmen jüdischer Regisseure zu sehen. Besonders interessant dürfte darunter Otar Iosselianis poetisches Märchen Chant d’hiver und der argentinische Film El Movimiento werden. In Letzterem erzählt der 1986 geborene Benjamin Naishtat von Räuberbanden, Anarchisten und dem Traum von einer neuen, friedlichen Gesellschaftsordnung im frühen 19. Jahrhundert.
Ob Locarno dagegen auch dieses Jahr wieder ein Fest des israelischen Kinos wird, steht seit vergangener Woche in den Sternen. Seit Anfang des Jahres hatte das Festival eine «Carte Blanche» für Filme aus dem jüdischen Staat geplant. Dann gab es Proteste: Zunächst ging es nur um den Titel «Carte Blanche», weshalb die Auswahl neuer israelischer Produktionen in «Spotlight on Israel» umbenannt wurde.
Doch im Anschluss an diese Debatte sorgte vor allem die «Partnerschaft» des Festivals mit dem vom jüdischen Staat finanzierten «Israel Film Fund» für Anstoß. Nach einem scharf formulierten Protestschreiben, das von Schweizer Filmemachern initiiert und von international bekannten Regisseuren und «Israelkritikern» wie Ken Loach, Jean-Luc Godard, Mira Nair und Eyal Sivan unterzeichnet wurde, zogen Ende vergangener Woche zwei tunesische Regisseure ihre Filme vom Festival zurück. Sieben andere arabische Regisseure hingegen werden nach Locarno fahren.
Dessen ungeachtet werden in den nächsten Tagen viele israelische Besucher in Locarno zu Gast sein und deren Stimmen dann am Lago Maggiore vernommen statt boykottiert werden. Es ist zu hoffen, dass die Regisseure mit ihrem Versuch, Israel kulturell zu isolieren, nicht erfolgreich sein werden. Schon allein deshalb, weil das israelische Kino zurzeit so aufregend, kreativ und nicht zuletzt selbstkritisch ist, wie schon seit Langem nicht mehr.