Yehudi Menuhins 100. Geburtstag ist auch Anlass, noch einmal in seiner Autobiografie zu blättern, die er in den 70er-Jahren unter dem Titel Unvollendete Reise veröffentlichte. Glaubt man den ersten Worten, die der in New York geborene Geiger dort notierte, war das einmalige Leben dieses Ausnahmemusikers und Ausnahmemenschen lediglich eine Aneinanderreihung von günstigen Augenblicken.
»Das Leitmotiv meines Werdegangs war stets der glückliche Zufall«, schrieb er, »der nicht mehr von mir forderte als ein Geschehenlassen (obwohl gerade das meist ziemlich viel Energie erfordert). Zum anderen sehe ich mich als Spross einer langen Vorgeschichte. Vieles in meinem Leben lag schon fest, ehe ich zur Welt kam, und manchmal glaube ich, nicht nur die eigenen Sehnsüchte erfüllt zu haben, sondern auch die meiner Eltern – vielleicht auch auf ihre Kosten.«
chassiden Yehudi Menuhins Eltern Moshe und Marutha waren Nachfahren chassidischer Rabbiner, emigrierten als Kinder von Weißrussland nach Palästina und zogen 1913 weiter in die Vereinigten Staaten von Amerika. Seinen Vornamen bekam Yehudi, »der Jude«, hauptsächlich aus Trotz: Seine Mutter wählte ihn als Reaktion auf eine antisemitische Bemerkung ihrer Vermieterin. Und das Judentum sollte eine wesentliche Rolle im Leben der Menuhins spielen.
Dabei war das jüdische Selbstverständnis, das Menuhins Vater vertrat, höchst bedenklich. Moshe Menuhin (1893– 1983) entwickelte sich nach der Staatsgründung Israels 1948 zum radikalen Antizionisten, der seine geistige Heimat in der rechtsextremen »Deutschen Nationalzeitung« fand, die von DVU-Frontmann und Neonazi Gerhard Frey geleitet wurde. Moshe führte hier einige Zeit lang das Feuilleton, bis er 1970 kündigte, weil das Blatt ihm zu wenig antizionistisch war.
Ganz anders sein Sohn: Yehudi Menuhin hatte kein Problem mit dem jüdischen Staat, war tief verankert in der jüdischen Religion, begeisterte sich für Yoga, schrieb Vorworte für den indischen Yoga-Guru B. K. S. Iyengar und ernannte den Klang zu seinem wahren Gott und zur Sprache des Körpers. »Yoga bedeutet, dass wir lernen, unser wichtigstes Instrument zu spielen und die größte Resonanz und Harmonie daraus zu ziehen«, so Menuhin.
Durchbruch Es war aber nicht nur das Geschehenlassen und die eigene Familientradition, die Yehudi Menuhin zu einem Ausnahmekünstler machten. Seine Biografie bestand auch aus Rebellion, aus Andersdenken und aus dem Mut, eigene Wege zu gehen. Sicher, die vielen Reisen, die ersten Auftritte in den USA, das Geigenstudium als Kind in Paris, der erste Durchbruch bei einem Konzert mit den Berliner Philharmonikern im Jahr 1927 unter Bruno Walter, das Kosmopolitische der jungen Jahre – all das prägte ihn.
Aber Yehudi Menuhin wollte auch andere Grenzen brechen, vor allen Dingen jene unsichtbaren, die der menschlichen Entwicklung im Wege standen. Sein Genie bestand darin, das überkommene musikalische Erziehungssystem zu hinterfragen, neue Wege zu erobern und durchzusetzen: Aus Frust über musikalische Autoritäten gründete er seine eigene Violinenschule in England. Er begriff Musik als Menschenrecht und gründete die Initiative »Live Music Now«, in der junge Künstler kostenlos in sozialen Einrichtungen spielten, und förderte so viele junge Musiker wie kein anderer Musikstar vor und nach ihm.
Der Ruhm von Klassikkünstlern, so bedeutend sie in ihrer Zeit auch gewesen sein mögen, verklingt in der Regel sehr schnell. Neue Virtuosen erobern die Welt, lesen die alten Meister anders und tragen durch ihr Erstrahlen zum Verglühen der vorherigen Legenden bei. Yehudi Menuhin ist einer der wenigen Musiker, deren Ruhm auch 100 Jahre nach seiner Geburt und 17 Jahre nach seinem Tod eher noch größer geworden ist. Sein Name ist allgegenwärtig. Auch deshalb, weil Menuhin sein Leben nicht nur in den Dienst der Interpretation und des verklingenden Klanges stellte, sondern Musik stets als Weitergabe von Wissen unter den Menschen verstand. Ja, mehr noch: Der freie Mensch war für ihn eine Investition.
Mentor Und so ist die Phalanx der Musiker, die seinen Namen auch heute noch in unsere Zeit tragen, endlos: Nigel Kennedy, selbst ein Outlaw der alten Schule, wurde von Menuhin unterrichtet, der Meistergeiger und Stardirigent Nikolaj Znaider und die Virtuosin Julia Fischer haben den Menuhin-Wettbewerb gewonnen und verbinden ihre Karrieren noch immer eng mit ihrem Mentor.
Der Geigenspieler Daniel Hope, dessen Mutter einst als Sekretärin bei den Menuhins gearbeitet hat, veröffentlicht pünktlich zum Geburtstag seines Lehrers das Hommage-Album My Tribute to Yehudi Menuhin. Eine musikalische Biografie, die Menuhins Wirken in jener Musik erzählt, mit der er berühmt wurde: Mendelssohns Violinkonzert d-Moll, das der Geiger in den 50er-Jahren wiederentdeckt hat, das Violinkonzert von Edward Elgar, das er dem greisen Komponisten in England persönlich vorspielte, Vivaldis Vier Jahreszeiten, die zu seinem Markenzeichen geworden sind, oder die Stücke von Gegenwartskomponisten wie Steve Reich, Hans-Werner Henze oder Béla Bartók, die Menuhin populär gemacht hat.
Es ist also kein Zufall, dass es ausgerechnet der britische Komponist Benjamin Britten war, der den Geiger 1945 bei seinem ersten Besuch in Deutschland nach 1933 begleitet hat. Die Erinnerungen in seiner Autobiografie erzählen viel darüber, welche Kraft Menuhin der Musik zugetraut hat, um verletzte Seelen zu heilen. In den Nachkriegsjahren kam er »nicht etwa wie zu meiner Jugendzeit zu einer Orchestertournee, sondern um für ausländische Flüchtlinge und die Überlebenden der Konzentrationslager zu spielen, die, da sie nicht wussten wohin, noch immer dort hausten. Wie viele Juden oder Nichtjuden in diesen Tagen, sah ich mich mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die jegliche Vorstellungskraft überstieg und von mir, dem unversehrt Gebliebenen, Trauer, Reue und Mitgefühl den Überlebenden gegenüber forderte.«
problematisch Besonders das Konzert in Bergen-Belsen verfolgte Menuhin sein ganzes Leben lang: »In den 30 Jahren seit jenem Nachmittag habe ich etliche dieser Belsen-Zuhörer wiedergesehen, wenn sie zu mir ins Künstlerzimmer kamen, wo auch immer – in Israel, Australien oder sonst irgendwo – sie eine neues Leben begonnen hatten.«
Vielleicht gehört es zum Schicksal eines großen Lebens im Namen der Musik und der Menschlichkeit, dass selbst jemand wie Yehudi Menuhin am Ende doch nicht alles im Griff hatte. Während seine musikalischen Erben schillern, bleibt sein familiäres Erbe problematisch. Wie bereits der Vater des Geigers engagiert sich heute auch sein Sohn, Gerard Menuhin, als handfest rechtsradikaler Publizist. In seinem Buch Tell the Truth and Shame the Devil, leugnet er zum Beispiel die Schoa, lobt Adolf Hitler und die Nationalsozialisten und wettert gegen die Bundesrepublik.
Schwer zu sagen, was Yehudi Menuhin, der sich nie zu seinem Sohn und seinem Vater geäußert hat, darüber gedacht hat. Sicher ist, dass sein Leben auch die Biografie einer ganz individuellen, jüdischen Emanzipation war, ein Leben, das den Glauben in die Musik übersetzt und damit als humanistische Idee befreit hat. Der ganz persönliche Weg eines großen Menschen.
Aber letztlich hat Yehudi Menuhin in seinem Leben mehrere verschiedene Leben geführt: zwei Ehen, eine Karriere als Virtuose, eine als Dirigent und nicht zuletzt als Amerikaner, Brite und Schweizer. Vor allen Dingen jedoch erreichte er als Pädagoge Unsterblichkeit, als Mensch-Musiker, als Künstler, für den seine Kunst nie Selbstzweck war, sondern Notwendigkeit, als Interpret, für den jedes Konzert, egal vor welchem Publikum, in welchem Land und vor welcher Religion, stets die Beweisführung der Universalität von Musik als menschliche Sprache bedeutete.