Es ist ein Markenzeichen der Talksendung »Markus Lanz«, dass dort Abend für Abend ein bunter Reigen an Themen abgehandelt wird. Das war auch am Donnerstag kurz vor Mitternacht so, als es nicht nur um Gott und die Welt, Pardon: die Bedeutung von Religion in der heutigen Gesellschaft, ging. Sondern auch um Sahra Wagenknecht, die AfD, die Deutsche Bahn, die katholische Kirche und das Christentum, den Hang zum Populismus, die Scheinheiligkeit der amerikanischen Rechten im Hinblick auf Sex, und - es durfte einfach nicht fehlen - die politische Entwicklung in Israel.
Den Aufreger des Abends lieferte Gregor Gysi, das Linken-Urgestein: Offenbar völlig ungerührt und unreflektiert verwendete er bei einem Exkurs zur Sklaverei in Amerikas Südstaaten das N-Wort und musste von Lanz gleich zweimal auf seinen Lapsus hingewiesen werden.
Immerhin, ein roter Faden zog sich durch die ZDF-Sendung: Was kann getan werden, um das Abdriften von Menschen - und im Fall Israels, von ganzen Staaten – ins rechtsradikale Spektrum zu verhindern?
Neben Gysi nahmen die Satmarer-Aussteigerin und Buchautorin Deborah Feldman und der katholische Theologe und Psychotherapeut Manfred Lütz im Studio Platz. Feldman, die seit 2014 in Deutschland lebt, hat kürzlich ein Buch mit dem provokanten Titel »Judenfetisch« herausgebracht, in dem sie versucht, den Befindlichkeiten der nichtjüdischen Deutschen in Bezug auf Juden und Israel auf den Grund zu gehen – und umgekehrt.
Doch dieses Thema musste erst einmal warten. Moderator Lanz wollte zunächst Gysi über die Pläne Wagenknechts aushorchen, eine neue populistische Partei zu gründen. Der 75-Jährige machte aus seinem Herzen keine Mördergrube: Eine Spaltung seiner Partei sei wahrscheinlich. Sie werde aber langfristig nicht von Erfolg gekrönt sein.
ABSPALTUNG Der politische und ideologische Spagat, den seine Noch-Genossin Wagenknecht da machen müsse, sei viel zu groß, meinte Gysi, das werde auf Dauer nicht funktionieren. Außerdem könne Wagenknecht nicht »organisieren«. Eine neue Partei um ihre Person herum aufzubauen, sei zu wenig.
Spätestens zur Bundestagswahl 2025, prognostizierte Gysi, dürfte die bislang noch nicht einmal gegründete Partei wieder in der Versenkung verschwinden.
Manfred Lütz sagte hingegen, ihm sei eine Partei lieber, die nicht wie die AfD eine »Offenheit ins Rechtsradikale« aufweise. Auch Feldman widersprach Gysi. Sie sähe es als vorteilhaft an, wenn gleich mehrere Parteien »im Sammelbecken der Unzufriedenen« fischen würden. Bislang sei die AfD dort ohne Konkurrenz.
Wobei sie hinzufügte: »Dennoch halte ich Sahra Wagenknecht nicht für ungefährlich. Sie macht mir schon Angst als Persönlichkeit, und auch die Art und Weise, wie sie Politik macht.«
Bis zu ihrem 23. Lebensjahr war Feldman Teil der ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft Satmar in New York, 2009 stieg sie aus und schrieb einen Weltbestseller über ihr Leben, das später in der Netflix-Miniserie »Unorthodox« weltweite Beachtung fand. Seit 2014 lebt Deborah Feldman in Deutschland.
Bevor Lanz auf Feldmans Buch zu sprechen kam, lenkte der Moderator das Gespräch auf die These des Atheisten Gysis, dass eine »gottlose Gesellschaft« nichts Gutes sei. Die Bergpredigt des Neuen Testaments sei auch heute noch der moralische Kompass für die Gesellschaft, postulierte er. Lütz pflichtete Gysi bei.
Nachdem Lütz darauf hingewiesen hatte, dass Religion bekanntlich »sehr existenziell« sei und man Menschen damit »unglaublich manipulieren« könne, nahm Gysi den Ball auf - und verwendete das N-Wort.
Von Lanz auf seinen Aussetzer hingewiesen, zeigte der frühere Partei- und Fraktionschef der Linken sich zunächst verwirrt. Er habe doch »Schwarze« gesagt. Hatte er aber eben nicht.
Lanz stellte dann die – rein hypothetische Frage – was denn passieren würde, wenn man das Thema nun ignorieren würde. Manfred Lütz beantwortete sie ihm so: »Dann würde Herr Gysi heftig angegriffen, dass er dieses Wort benutzt hat, und es wird Leute geben, die sagen, dass das ungerecht sei, dass der Herr Gysi deswegen angegriffen wird. Das heißt, wir eskalieren ständig, für den eigenen Stammtisch.«
MORALISIERUNG Gysi ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Er habe ein Zitat gebracht und sei im Übrigen sehr dafür, dass man heute »Schwarze« sage und auch weibliche Formen verwende. »Aber wir dürfen nicht überziehen.« Auch Lütz nannte die »Moralisierung jeder Debatte – auch wenn man nur beiläufig ein Wort sagt – verheerend.«
Ob es etwas mit dem Rückzug der Religion zu tun habe, dass man heutzutage anderen deren Fehler weniger verzeihe als früher, wollte Lanz dann von Deborah Feldman wissen. Feldman: »Das zentrale Problem der Religion ist, dass sie ein bisschen konkurriert mit der individuellen Freiheit. Deshalb sagt man auch, dass Religion und Sozialismus etwas gemeinsam haben: Um sich um alle zu kümmern, muss man bereit sein, seine individuelle Freiheit bis zu einem gewissen Maß aufzuopfern für das Kollektiv.«
Sie selbst habe die Erfahrung gemacht, dass der zunehmende Trend zu Individualisierung, weg von der Religion, mittlerweile dazu geführt habe, dass sich die Religionsgemeinschaften noch stärker abschotteten, ihre Umwelt nur als feindselig wahrnähmen und nach innen noch restriktiver würden.
Damit provozierte sie den Widerspruch des Theologen Lütz, der im Katholizismus auch Elemente erkennen konnte, die zum Beispiel die Gleichberechtigung von Frau und Mann und die Abschaffung der Sklaverei begünstigt hätten. Gysi dagegen erkannte in Feldmans Beschreibung jüdischer Sekten auch linke Splittergruppen wieder, die seien auch schwierig gewesen. Dann stolperte er prompt wieder über seine Ausdrucksweise.
SEKTEN »Ich habe solche linken Sekten kennengelernt, die haben mich mal eingeladen. Ich dachte, ich spinne, da war eine Frau, die war – das darf man heute gar nicht sagen, darf man das noch sagen? – die war hübsch. Die ballte ihr Gesicht zur Faust. Ich wusste gar nicht, dass das ging. Sie giftete mich an in einer Art und Weise, wie ich das selten erlebt habe.«
Da habe er dann gedacht, so Gysi weiter: »Was geht in denen vor? Wann ist da eigentlich, was ist da kaputtgegangen, dass ein menschliches Empfinden gar nicht mehr existiert? Das gibt es im Christentum auch.«
Erst zu Ende der Sendung kam Lanz dann auf Feldmans Biografie und ihr neues Buch »Judenfetisch« zu sprechen. Von ihr sei erwartet worden, dass sie viele Kinder auf die Welt bringen müsse, sagte Feldman. »Als Grund dafür sagte man uns, dass man die von Hitler Ermordeten ersetzen müsste. Aber die Wahrheit ist: Es war Politik. Ich sollte viele Kinder in die Welt bringen, damit wir sehr viele Stimmen in unsere Gemeinde hätten, damit dann, wenn ein Politiker ins Amt kommen wollte in New York City, er auf uns als Wählergruppe angewiesen war.« Deshalb gebe es in ihrer ehemaligen Gemeinschaft bis heute keine nichtjüdischen Ausbildungsstätten. Die Politiker hätten einfach darüber hinweg geschaut.
ISRAEL Dann schlug sie den Bogen zur israelischen Politik. Auch dort hätten die Orthodoxen viele Kinder, auch würden Frauen in »radikal religiösen Gemeinden« erzogen wie sie selbst damals. Der Rabbiner entscheide für das Kollektiv, wie gewählt würde. Israel sei auf dem Weg, ein rechtsradikales Land zu werden, wetterte Feldman.
Wer an diesem Punkt das Gefühl bekam, die Debatte drifte in die üblichen Schwarzweiß-Schablonen ab, wurde schnell bestätigt. Lanz und Gysi gaben Anekdoten zum Besten und betonten, dass Jerusalem ganz anders sei als Tel Aviv oder Haifa. Der Linken-Politiker zog flugs den ehemaligen israelischen Botschafter in Deutschland, Avi Primor, als Kronzeugen heran. Er schätze Primor sehr. Primor habe ein »Unbehagen« angesichts der Veränderung der Verhältnisse in Israel, das sei »sagenhaft«, so Gysi.
»Wir müssten über diese Veränderungen reden, wir hier in der westlichen Welt, weil Israel sehr mit der westlichen Welt verstrickt ist«, pflichtete ihm Feldman bei. Israel werde gerade gezielt von rechten Kräften so umgestaltet, wie es in der Bibel vorgegeben sei. Da dürfe der Westen nicht mitziehen und auch Deutschland nicht schweigen.
Auch Lanz und Gysi sahen einen eindeutigen Trend zum Rechtsradikalismus in Israel.
Auch auf die innerdeutsche Debatte über Juden und den Umgang mit der Vergangenheit ging Feldman kritisch ein. Sie vertrat die kühne These, dass für das offizielle Israel der Antisemitismus gegen Juden in der Diaspora egal sei, wenn er sich nicht gegen Israel richte. Sie beklagte auch den falschen Einsatz des Vorwurfs des Antisemitismus. Der führe nur dazu, dass sich Menschen noch stärker zurückzögen und ausgegrenzt sähen.
Der Psychiater Lutz stimmte ihr zu und brachte den Begriff der »Moralkeule Antisemitismus« in die Debatte ein.
DIALOG Lütz wörtlich: »Wenn jemand in der Öffentlichkeit moralisch diskreditiert wird, dann ist das schrecklich für den. Wenn er sich dann zusammentut mit anderen, die auch moralisch diskreditiert sind, ist das natürlich. Und je mehr man draufhaut, desto mehr eskaliert die Situation. Mein Plädoyer wäre, dass man eben nicht reflexartig draufhaut und ausgrenzt, sondern dass man tatsächlich Kommunikation wieder auch mit Menschen sucht, die nicht der eigenen Meinung sind.«
Damit war die Debatte zum Schluss wieder genau dort, wo sie schon am Anfang war. Die deutschen Befindlichkeiten sollten das Thema der Runde sein.
Am Ende drängte sich wahrscheinlich beim manchem Zuschauer der Sendung der Eindruck auf, dass die drei Diskutanten und ihr Gastgeber diese Befindlichkeiten sehr schön rübergebracht hatten, der Erkenntnisgewinn aber recht gering war. Aber es kommen ja noch weitere Sendungen. Ganz bestimmt.