Literatur

»Sagen, was wir fühlen – nicht, was wir sagen sollten«

Der israelische Dramatiker Jehoschua Sobol schreibt in seinem Text für die Jüdische Allgemeine über einen Kater, ein Kindheitserlebnis und die Tollwut des Hasses

von Jehoschua Sobol  16.10.2024 12:35 Uhr

Jehoschua Sobol Foto: Stephan Pramme

Der israelische Dramatiker Jehoschua Sobol schreibt in seinem Text für die Jüdische Allgemeine über einen Kater, ein Kindheitserlebnis und die Tollwut des Hasses

von Jehoschua Sobol  16.10.2024 12:35 Uhr

Als ich ein dreijähriger Junge war, spielte ich eines Tages mit einem großen Kater, der im Hof unseres Hauses herumlief. Ich erzählte ihm einen Witz über Männer mit geteilten Bärten, und um ihm den Witz zu veranschaulichen, zog ich an beiden Enden seines Schnurrbartes. Anstatt zu lachen, rammte der Kater seine Zähne in meine Handfläche. Blut strömte aus der Wunde, und ich begann zu weinen.

Aus dem Haus rannten Leute in den Hof, um zu sehen, was passiert war. Mein Vater erschien. Er nahm sein Jagdgewehr und schoss auf den Kater. Man schnitt dem Tier den Kopf ab und schickte ihn ins Labor. Das Ergebnis war nicht eindeutig. Zur Sicherheit wurde ich gegen Tollwut geimpft und bekam mehrere Spritzen.

Ich habe gelernt, ihr katzenhaftes Wesen zu verstehen

Seitdem habe ich humorlosen männlichen Katzen keine Witze mehr erzählt. Um das Trauma zu bewältigen, habe ich mich gezwungen, mich mit Katzen anzufreunden. Ich habe gelernt, ihr katzenhaftes Wesen zu verstehen, das besondere Überraschungen in ihrem Verhalten für alle Katzen birgt.

An dieses Erlebnis habe ich mich erinnert, als mir klar wurde, dass unter den 6000 Gewalttätern, die bei dem Pogrom am 7. Oktober 2023 wie eine wilde Herde von Tieren über die Dörfer in der Nähe der Grenze zum Gazastreifen herfielen, keine einzige Frau war. Die Mörder, die Vergewaltiger, die Schlächter der Babys und die Geiselnehmer waren alles junge Männer – mehr oder weniger (jung). Die Hälfte dieser jungen Männer gehörte zur Organisation der Hamas. Die andere Hälfte war unorganisierter Pöbel aus Gaza, und auch unter ihnen war keine einzige Frau zu sehen.

Anstatt zu lachen, rammte der Kater seine Zähne in meine Handfläche.

Ein junger Mann, der ein Maschinengewehr auf eine junge Mutter richtet, die ein Baby im Arm hält, und auf sie schießt, zielt auf die Mutterschaft an sich. Mit dem Mord, den er begeht, bringt er tödlichen Hass auf seine Mutter zum Ausdruck, die ihn geboren hat – und auf seine Schwestern, falls er Schwestern hat, die junge Mütter sind. Woher stammt dieser Hass auf Frauen, Mütter und Schwestern? Eine schreckliche Frage, deren Antwort eingehüllt ist in die Finsternisse der Seele.

Die Anführer, die die jungen Männer geschickt hatten, um dieses Massaker zu verüben, und die laut den Worten Einzelner auch die Anweisung gegeben hatten, Frauen zu vergewaltigen, waren alternde Männer, die offenbar an schweren psychischen Störungen leiden. Dazu zählen Hass auf Frauen und andere sexuelle Störungen auf verschiedenen Ebenen. Anders lässt sich nicht verstehen, woher die Anweisung rührt, die den Gewalttätern gegeben wurde – israelische Frauen zu vergewaltigen, die ihnen in die Hände fielen.

Es ist eine Kultur des Todes, die die Freiheit des Menschen in all ihren gesunden Erscheinungsformen verneint

Wie immer auch das ideologische Gewand derjenigen aussieht, die versuchen, diese Orgie des Mordes und der Vergewaltigung zu verschleiern – die Orgie, der die Kraftprotze der Hamas und der Pöbel aus Gaza zu Tausenden in einem wahnsinnigen Tanz der Triebe verfallen sind –, die tiefen Motive dieses Wütens liegen in einer kollektiven seelischen Pathologie.

Man muss ein völliger Idiot sein, um im Ausbruch dieses Massenverbrechens einen »antikolonialen« Akt zu sehen oder jeden anderen Ausdruck, der irgendeine politische oder ideologische Bedeutung hat. Das dschihadistische und misogyne Böse, das aus der Herde der jungen Gewalttäter hervorbrach, hat die Pathologie des Hasses auf das Leben und die krankhafte Verzückung durch den Tod nach außen gekehrt. Falls man diese Pathologie als »Kultur« bezeichnen will, dann ist es eine Kultur des Todes.

Es ist eine Kultur des Todes, die die Freiheit des Menschen in all ihren gesunden Erscheinungsformen verneint. Sie negiert gleiche Rechte für Frauen und die sexuelle Freiheit, und auf mörderische Art und Weise wendet sie sich auch gegen die Anerkennung der Rechte von LGBTQ-Personen.

Diese »Kultur« braucht den Hass, um zu existieren

Es ist eine phallokratisch-misogyne Kultur, die einerseits den »Werten der intakten Familie in Übereinstimmung mit den Werten der herrschenden Religion« huldigt, und andererseits eine Kultur, in der es keinen Platz gibt für Freiheit in der Liebe. Diese »Kultur« braucht den Hass, um zu existieren, und vor allem den Hass auf Kulturen, in denen es gleiche Rechte für Frauen und Männer gibt. Den Hass auf Kulturen, die das Recht zu lieben anerkennen und praktizieren – ein Recht, das allen Kreaturen vorbehalten ist, die im Ebenbild erschaffen wurden –, und die es ablehnen, Frauen wie Dinge zu behandeln, die Erwerb und Eigentum von Männern sind.

Wenn diese Annahmen richtig sind, dann wundert es nicht, dass eine der furchtbarsten Erscheinungsformen des Massakers vom 7. Oktober der mörderische Überfall, begleitet von Vergewaltigungen, auf die Teilnehmer des Nova-Festivals war, eine Party des Gesangs, des Tanzes und der Liebe freier Frauen und Männer, die aufgebrochen waren, um die Freude ihres jungen Lebens in der Natur zu feiern.

Woher stammt dieser Hass auf Frauen, Mütter und Schwestern?

Kehren wir für einen Moment zum Biss des Katers zurück. Ein Opfer pathologischen Hasses steht vor dem Problem, wie es auf dessen Urheber und Vollstrecker reagieren soll, ohne sich mit der bösartigen Tollwut des Hasses anzustecken. Im Gegensatz zur herkömmlichen Tollwut gibt es gegen die Tollwut menschlichen Hasses, einer Erkrankung, die zum Tode führen kann, noch keine Impfung mit Spritzen, und es ist sehr leicht, sich mit diesem Virus anzustecken. Eines der Symptome einer Infektion mit der Tollwut des Hasses ist die Sucht nach Rachegelüsten und ihr Stillen durch Racheakte, die Zerstörung und Tötung säen, ohne Unterschiede zu machen

Das Problem, sich zu verteidigen, ohne der Sucht nach Rache zu verfallen, wird sehr schwer und kompliziert, wenn die Organisationen des pathologischen Hasses Metastasen im Gewebe der zivilen Umgebung bilden, innerhalb dessen sie existieren. Es sind Metastasen in Gestalt von Lagern für Massenvernichtungswaffen in Kellern von Gebäuden und im Untergrund einer dicht besiedelten urbanen Umgebung. Ein israelischer Offizier, der in diesen Tagen im Libanon gefallen ist, hat eine Nachricht an seine Eltern hinterlassen. Sie lautet: »Ich gehe in diesen Kampf nicht, weil ich den Feind hasse, sondern aus Liebe zu den Menschen, die ich vor dem Hassenden verteidigen will.«

Sie singt das Lied in einem kritischen Moment des Dramas

Was können und was müssen Menschen, die an Worte glauben, angesichts des Ausbruchs dieser abscheulichen Seuche des Hasses tun, die uns befallen hat? Shakespeare hat diese Aufgabe mit starken Worten so ausgedrückt: »The weight of this sad time we must obey. Speak what we feel, not what we ought to say.«

Ich habe versucht, Shakespeares Auftrag in meinem Theaterstück Grenzen der Angst auszuführen, das ich in den Tagen nach dem Pogrom des 7. Oktober geschrieben habe. Hier ein Auszug aus einem Lied, das die Heldin singt, eine Sängerin, die Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde. Sie singt das Lied in einem kritischen Moment des Dramas, als ihr Geliebter – ein Opfer des Hasses – in Gefahr gerät, zu einem vergifteten Täter zu werden, dessen Seele von der Ansteckung durch den Hass bedroht ist.

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