Fotoessay

Ruths Reise

Sie waren zu Bürgern zweiter Klasse erklärt worden, verfolgt, gedemütigt, verstoßen. Sie durften sich nicht mehr als Deutsche fühlen, gehörten aber vorerst keiner anderen Nation an.» So beschreibt Marita Krauss den Zustand derjenigen, denen die Flucht aus dem nationalsozialistischen Machtbereich glückte.

So müssen sich meine Urgroßeltern Charlotte und Curt Lippmann mit ihren Kindern Ruth und Günter bei der Ankunft in Brasilien gefühlt haben. Ich wurde im Alter von ungefähr zehn Jahren zum ersten Mal bewusst mit der Familiengeschichte konfrontiert, als mir mein Vater – kein Nachkomme der Familie Lippmann – sagte, dass auch ich unter Hitler vergast worden wäre. Im Erwachsenenalter fing ich an, über seine Worte nachzudenken und meine Großmutter Ruth nach ihren Erinnerungen zu fragen.

São Paulo Ruth wurde 1931 in Zwickau geboren und konnte nach dem erzwungenen Verkauf des Familienbesitzes und einem kurzen Aufenthalt in München mit dem Schiff nach Brasilien fliehen. Dort gelang es den Lippmanns, nach anfänglichen Schwierigkeiten ein neues Leben aufzubauen. Ruth gründete eine eigene Familie, ihre drei Töchter wuchsen in São Paulo auf. Bis heute lebt sie den Großteil des Jahres dort.

Auf meine Fragen gab sie mir oft keine Antworten. Anfangs konnte ich nicht verstehen, warum sie mir nicht antworten will, warum sie ihr Judentum leugnet, warum sie nicht wütend auf die Deutschen ist, sondern eher voller Scham an ihre Flucht aus Deutschland denkt.

«In meiner Naivität hatte ich gehofft, meine eigene Identität besser zu begreifen, wenn ich die meiner Großeltern entdeckte. Aber indem ich die Vergangenheit ausgrub, legte ich das Loch frei, das wie ein enormer Krater mitten im Herzen meiner Mutter klaffte», schreibt Helen Fremont in ihrem Buch Nach langem Schweigen. Auf der Suche nach meiner jüdischen Identität. Auch ich hatte gedacht, dass ich meiner Identität ein wenig näherkomme. Aber ich musste akzeptieren, dass ich weder Ruth zur Erinnerung zwingen, noch mir eine klare Identität verschaffen kann.

Hinweise Ich habe mich mit meiner Kamera auf die Suche gemacht, bin zu den Orten gefahren, an denen Ruths Familie gelebt hat. Ich bin die Strecke ihrer Flucht nachgereist: per Zug und Schiff. Dabei hatte ich gehofft, wenigstens an manchen Orten Spuren zu finden, Erinnerungen oder andere Hinweise. Anhand von Archivmaterialien, Bestätigungen über Verkäufe und Umzug, konnte ich Wohnorte wiederfinden, jedoch keine persönlichen «Überreste» dieser angesehenen, bürgerlichen deutsch-jüdischen Familie.

Wie ist es für einen Menschen, aus dem Land vertrieben zu werden, in dem er sich zu Hause wähnte? Was fühlt er, wenn er in ein Land kommt, das er nicht kennt? Wie lange muss er bleiben, kann er je wieder zurück? Die Familie Lippmann hat sich in Brasilien eingerichtet, sich angepasst, die vorhandenen Möglichkeiten genutzt. Sie ist dort gelandet und geblieben.

Ich habe durch diese Arbeit entdeckt, dass man nicht immer finden kann, was man sucht. Ruth hat auf dem Weg von Deutschland nach Brasilien viel verloren. «›Weißt du‹, fuhr sie fort, ›ich wünschte, ich könnte mich an meine Vergangenheit erinnern. Aber was soll ich tun? Manch einer hat im Krieg einen Arm verloren oder ein Bein. Ich habe meine Vergangenheit verloren‹», heißt es bei Helen Fremont. Ruth will sich nicht als Überlebende der Schoa begreifen, lebt mit ihrer neuen Identität. Die alte wurde verloren, ist nicht mehr zu finden. Auch nicht für mich, mit einem neuen Blick, einem anderen Verständnis.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025