Ruth Klüger und ein weißhaariger Herr gehen langsam den Strand von Crystal Cove in Kalifornien entlang. Ein friedliches Bild mit einer Menge Sonne, untermalt vom Rauschen des Meeres. Der harmonische Eindruck wird noch verstärkt durch die Worte Ruth Klügers, die unter diese Bilder gelegt sind: »Herbert Lehnert ist ein Freund von mir, der mich hier angeheuert hat.
Ein Professor der Germanistik, der meine Arbeiten schätzte und mich darum hier haben wollte. Der war in der Hitlerjugend und, wie er selbst sagt, ein überzeugter Nazi und dann war er in der Wehrmacht, und nach dem Krieg hat er sich geändert, wie hoffentlich die meisten Deutschen.« Zwei Freunde im Winter ihres Lebens bei sommerlichen Temperaturen. Eine idyllische Szene aus dem Film Das Weiterleben der Ruth Klüger von Renata Schmidtkunz, der kommende Woche in Berlin seine deutsche Premiere hat.
drama Doch dann beginnt Lehnert zu reden: »Wir dürfen ja nicht die Hitler-Zeit verabsolutieren«, erklärt er Ruth Klüger. »Es war eine zwar schreckliche und für dich besonders schreckliche Episode, aber letzten Endes nur eine Episode. Und in meiner Arbeit, also in meiner Forschung, spielen deutsche Juden eine sehr große Rolle. Und diese Zeit der assimilierten deutschen Juden, die nichts als Deutsche sein wollten, kann man in gewissem Sinne ja regenerieren, und ich betrachte unsere Freundschaft manchmal in diesem Sinne.«
Nach diesen Sätzen ist der kalifornische Himmel noch immer wunderschön, das Meer rauscht noch immer vor sich hin, doch die Worte des Professors haben den ersten Eindruck der Idylle schlagartig zerstört. Die schöne Landschaft steht in fast höhnischem Kontrast zu der Szene, deren Zeuge wir werden. Die Kamera ist auf Ruth Klügers Gesicht gerichtet, und das Drama schwingt nicht nur zwischen den Zeilen mit, es ist auf ihrem Gesicht, in ihren Augen zu lesen.
Diesen unmittelbaren Eindruck kann Literatur nicht vermitteln. Das kann nur der Film. Leider, möchte man in diesem Fall fast sagen. Doch es entspricht dem Charakter dieser ungewöhnlichen Dokumentation, dass sich Ruth Klüger und die Regisseurin Renata Schmidtkunz entschieden haben, diese Szene nicht wegzulassen.Das Weiterleben der Ruth Klüger ist ein unbestechlicher, unbequemer und gerade deswegen so beeindruckender Film. Er ist keine überflüssige Illustration des literarischen Werks. Man muss kein einziges Buch von Ruth Klüger gelesen haben, um diesen Film zu verstehen und um ihn stellenweise auch sehr lustig zu finden.
authentisch Das Weiterleben der Ruth Klüger ist kein Schriftstellerporträt. Es ist auch kein Film über die Schoa. Über die Emigration. Oder über den Feminismus. Es ist auch kein Film über Ruth Klüger. Es ist sie selbst, die spricht. Laut denkt. Oder schweigt. Klügers Art zu denken im Film festzuhalten, war das Ziel von Renata Schmidtkunz. Das hört sich nicht gerade spannend an. Aber da es sich um Ruth Klüger handelt, kommt für keine Sekunde Langeweile auf, wenn wir ihr nach Amerika, nach Deutschland, Österreich oder Israel folgen.
In Jerusalem stellt sie fest: »Israel ist irgendwie Bestandteil meines inneren Mobiliars. Denn dort wäre ich zu Hause gewesen. Auch wenn ich Hebräisch mit deutschem Akzent gesprochen hätte, wäre es noch immer meine Sprache gewesen. Das ist die Sprache der Juden. Das ist meine Sprache.« Gleichzeitig sagt sie über den jüdischen Staat: »Das ist absolut nicht mein Land. Ich hätte nur ganz gern, es wäre mein Land geworden. Das ist ‹ne andere Sache. Konjunktiv.«
Den Film werden, merkt die Protagonistin ironisch an, vor allem Frauen sich ansehen. Die einzigen männlichen Zuschauer, die Ruth Klüger wirklich wichtig sind, sind ihre Söhne. »Das wünsche ich mir immer für meine Kinder«, bekennt sie. »Ich will Eindruck schinden.«
»Das Weiterleben der Ruth Klüger«, Österreich 2011, 83 min. Deutsche Premiere am 13. Juni 2012 um 18 Uhr im Kinosaal der Humboldt-Universität, in Anwesenheit von Ruth Klüger und Renata Schmidtkunz