Erinnerungskultur

Roth, die Revisionistin?

Betroffenheit allein reicht nicht: Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) bei einem Besuch in der Gedenkstätte Buchenwald (Dezember 2021) Foto: picture alliance / Alexander SCHUHMANN_aI

Es wird nicht besser mit Claudia Roth: Fast zwei Jahre nach der desaströsen »documenta 15« kommt die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) nicht aus den negativen Schlagzeilen. Unlängst applaudierte die grüne Kulturstaatsministerin bei der Preisverleihung der Berlinale – ein Event, bei dem ausschließlich Israel am Pranger stand und das Massaker vom 7. Oktober nur ein Randthema war. Den israelischen Schauspieler David Cunio, der immer noch Geisel der Hamas in Gaza ist, erwähnte Roth mit keinem Wort.

Nun ist ein Protestbrief gegen ein »Rahmenkonzept Erinnerungskultur« aus dem Kulturstaatsministerium bekannt geworden. Der Vorgang erscheint einmalig: Sämtliche Vertreter der Dachverbände für die Gedenk- und Erinnerungsorte an die Verbrechen der Opfer des Nationalsozialismus, der sowjetischen Besatzung und der SED-Diktatur haben das Schreiben unterzeichnet.

Das Papier, so die Gedenkstättenleiter, könne als »geschichts­revisionistisch im Sinne der Verharmlosung der NS-Verbrechen verstanden werden«.

Worum geht es? Mit dem vorläufigen »Rahmenkonzept«, das vor wenigen Wochen für nur kurze Zeit auf der BKM-Website zu lesen war, sollte ursprünglich die »Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes« von 2008 überarbeitet werden – so verlangt es der Koalitionsvertrag der Ampelparteien von 2021.

Doch neben den bereits bestehenden »Säulen« deutscher Erinnerungskultur – der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der SED-Diktatur – will der Entwurf aus dem Hause Roth zusätzlich den Kolonialismus, die »Erinnerungskultur in der Einwanderungsgesellschaft« und die »Kultur der Demokratie« als weitere Aufgaben verstanden wissen.

Außerdem sollen die Geschichte der »Gastarbeiter« seit den 60er-Jahren und die »Spur des rassistischen Terrors« von Hoyerswerda, Mölln und Solingen bis zu den Anschlägen von Hanau und Halle in zukünftigen Gedenkorten thematisiert werden.

Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland hat, wie zu hören ist, Bedenken angemeldet.

Doch man muss kein Historiker sein, um die Unterschiede zu begreifen: Der rechtsextremistische Terror in der Bundesrepublik ist noch nicht Geschichte – und mit dem Völkermord der Nationalsozialisten nicht auf eine Ebene zu stellen.

Zu Recht bemängeln die Dachverbände der Gedenkstätten, das BKM-Papier unterscheide nicht zwischen staatlich verübten Massenverbrechen und politischer Kriminalität: »Der Entwurf leitet einen geschichtspolitischen Paradigmenwechsel ein, der zu einer fundamentalen Schwächung der Erinnerungskultur führen würde. Er verabschiedet sich von dem langjährigen Konsens, dass die nationalsozialistischen Verbrechen nicht relativiert und das SED-Unrecht nicht bagatellisiert werden dürfen.«

Das Papier, so die Gedenkstättenleiter, könne als »geschichts­revisionistisch im Sinne der Verharmlosung der NS-Verbrechen verstanden werden«.

»Der Entwurf leitet einen geschichtspolitischen Paradigmenwechsel ein«, betonen die Gedenkstättenleiter.

Wer sich durch den 43 Seiten umfassenden Entwurf kämpft, findet darin eine Menge Plattitüden. Wie etwa: »Besonders im Zug identitätspolitischer Kämpfe hat eine lebendige Erinnerungskultur das Potenzial, das Empathiegefälle und das Risiko einer Opferkonkurrenz auf allen Seiten aufzulösen. Es ermöglicht ein Denken in Solidarität, denn Schmerz ist auch immer politisch.«

Die Gedenkstättenleiter kommen folgerichtig zu dem Schluss, das Papier enthalte keine Analyse, die auf wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen beruht: »Es hinterlässt den Eindruck einer geschichtspolitischen Agenda, die keine Verankerung in der Gedenkstättenlandschaft hat. Darüber hinaus stellt es einen Rückfall in eine bloße Opfergeschichte dar.«

Natürlich geht es bei dieser Auseinandersetzung auch um Geld. Dass man sich in deutschen Gedenkstätten Sorgen um die Finanzierung der eigenen Einrichtungen machen muss, ist leider nicht neu – zumal das Kulturstaatsministerium laut dem Entwurf auch einen Lern- und Erinnerungsort plant, der »über die deutsche und europäische Kolonialherrschaft, insbesondere in Afrika« und noch andauernde Folgen informieren soll.

Zur Erinnerung: Die Schoa, der Mord an sechs Millionen Juden, ist kein Verbrechen unter vielen.

Doch dagegen wendet sich der Protest gar nicht – die Gedenkstättenleiter erklären sich ausdrücklich damit einverstanden, dass als »dritte Säule die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Kolonialismus in ein erneuertes Konzept aufgenommen werden sollte«.

Aber sie warnen eindringlich davor, was auf dem Spiel steht, wenn die Auseinandersetzung mit den schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte und der Geschichte der Täter einer weichspülenden Geschichtspolitik Platz macht, die allen gefallen soll – nicht zuletzt Grün-Wählern mit und ohne Migrationshintergrund.

Im Vorfeld der Kasseler Weltkunstschau documenta 2022 hat Claudia Roth den drohenden Antisemitismus-Skandal trotz Warnungen von Experten und des Zentralrats der Juden monatelang unterschätzt – bis es zu spät war. Auch diesmal hat, wie zu hören ist, der Zentralrat der Juden Bedenken angemeldet.

Der Entwurf ist das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben steht.

Trotzdem will Roth im Mai bei einem runden Tisch im Kanzleramt mit den Gedenkstättenleitern über das »Rahmenkonzept« sprechen. Sie täte besser daran, der Forderung ihrer Kritiker nachzukommen und diesen unseligen Entwurf zu entsorgen.

Die Schoa, der Mord an sechs Millionen Juden, ist kein Verbrechen unter vielen. Wenn ein Entwurf des deutschen Kulturstaatsministeriums daran den geringsten Zweifel lässt, ist er das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben steht.

goldmann@juedische-allgemeine.de

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