Herr Sandberg, Sie haben drei Jahre lang mit der Kamera das Leben in der Jeschiwa Beis Zion am Prenzlauer Berg in Berlin begleitet. Wie kam es dazu?
Eigentlich per Zufall. Ich bekam vor Jahren einen Auftrag von der Jeschiwa, für sie Fotos zu machen. Ich bin dann mehrmals wieder dort hingegangen, zu verschiedenen Gelegenheiten, habe die Leute kennengelernt, die haben mich kennengelernt. Offensichtlich gab es eine wechselseitige Sympathie. Und so habe ich angefangen zu fotografieren. Ein festes Konzept hatte ich dabei nicht. Das Projekt hat sich entwickelt wie eine Reise, die man anfängt, ohne das Ziel zu kennen.
Durften Sie ohne Einschränkungen fotografieren?
Dies ist eine streng religiöse Jeschiwa. An Hohen Feiertagen durfte ich natürlich nicht fotografieren, an keinem Jom Tow, am Schabbes sowieso nicht. Das ist natürlich eine ziemliche Einschränkung. Da bleiben nur noch Purim, Chanukka und ein paar Hochzeiten. Aber das hat mich gar nicht so sehr gestört. Ich wollte ja kein Buch machen über religiöses Brauchtum. Davon gibt es genug. Mein Thema war das, was man jiddisch »Menschkeit« nennt. Juden verstehen, was das bedeutet, Nichtjuden müsste man es erklären. Nur so ganz erklären kann man es nicht. Wenn ich das mit Worten könnte, hätte ich die Fotos nicht machen müssen.
Dann reden wir darüber. Was sind das für Menschen, denen Sie begegnet sind?
Es sind Menschen, die zum überwiegenden Teil aus der ehemaligen Sowjetunion stammen. Ihre Familien sind nach 1990 als Kontingentflüchtlinge hierhergekommen. Die Eltern sind oft gar nicht religiös. Aber die Söhne und Töchter suchen den Weg zum Glauben, wollen offensichtlich auf eine neue Weise Chassidim werden.
Sie haben Sie, scheint es, sehr beeindruckt.
Die Leute ruhen in sich. Das habe ich gemerkt, als ich sie porträtiert habe. Wenn man etwas Erfahrung hat, merkt man, wie jemand auf die Kamera reagiert. Diese Menschen – mit wenigen Ausnahmen – haben sich vor die Kamera gesetzt, und ich hatte das Gefühl: Die sind bei sich. Sie müssen nicht vorgeben, etwas anderes zu sein, als sie sind. Die haben ihre Mitte. Das ist ein schöner Zustand. Und so was merkt ein Fotograf.
Sie sind selbst jüdisch, Ihr Urgroßvater war Rabbiner. Aber Sie sind in der DDR aufgewachsen, mit wenig Bezug zur Religion.
Richtig. Wie viele andere auch stamme ich aus einem Elternhaus, das säkularisiert und kommunistisch eingestellt war. Mein Vater hatte die Idee, das Paradies auf Erden mit dem Kommunismus zu errichten. Aber er war sehr jüdisch.
Als Kommunist?
Als Kommunist. Selbst wenn die Eltern es nicht wollten und glaubten, es spiele keine Rolle, wurde das jüdische Erbe tradiert. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass eine Art Auftrag weitergegeben wurde.
Wie funktionierte das?
Bei uns gab es Mazze zu Pessach. Die Kinder fragten dann: »Was ist das für komisches Knäckebrot?« Und die Eltern mussten dann erzählen. dass wir Sklaven in Mizraim gewesen waren. Wir hatten auch Verwandtschaft im Westen, in Israel, in Südafrika, in England, in den USA. Sodass, was ungewöhnlich war in der DDR, zu uns Leute zu Besuch kamen aus aller Herren Länder.
Ein Stück jüdisches Erbe haben Sie als Kind auf dem Dachboden gefunden.
Ja, Tefillin. Die lagen in einer Tasche. Ich wusste damals natürlich nicht, was das ist. Ich habe die Tasche geöffnet, die Kästchen aufgemacht und mich gewundert. Aber meinen Vater habe ich nicht gefragt. Denn buchstäblich daneben lag ein weniger schöner Gegenstand: ein Schlagstock aus Gummi und Leder. Der, das wusste ich, stammte aus Buchenwald. Mein Vater hatte ihn als »Andenken« aus dem Lager mitgebracht.
Kann es sein, dass die Ausstellung und das Buch für Sie auch eine Art Rückkehr zu den jüdischen Wurzeln sind?
Nein, das passierte schon viel früher. Ich bin noch vor der Wende Mitglied der Jüdischen Gemeinde geworden. Übrigens nicht als Einziger aus einer kommunistischen Familie. Ich habe damals auch meine Brit Mila nachgeholt. Ich bin 1952 geboren, das war die Hochzeit des stalinistischen Antisemitismus, da hatte mein Vater sich nicht getraut, mich beschneiden zu lassen.
Sie nennen Ihr Projekt nicht Bildreportage, sondern »eine fotografische Erzählung«. Warum?
Das Wort »Erzählung« hat ein literarisches Moment. Eine Bildreportage berichtet. Das tue ich auch. Aber darüber hinaus habe ich viele Bilder, die einer Idee, einer Vorstellung folgen.
Welcher Vorstellung?
Vielleicht der Idee eines Judentums, wie es heute nicht mehr existiert, das verloren gegangen ist, kaputt gemacht wurde.
Nostalgie?
Nein, Nostalgie würde ich es nicht nennen. Eher »Romantik«, was für mich ein positiver Begriff ist. Romantik bewahrt etwas in dem Moment, in dem es verloren zu gehen droht. Oder nennen Sie es »Poesie«. Deshalb habe ich neben die reportierenden farbigen Bilder die Schwarz-Weiß-Porträts gestellt. Das sind unterschiedliche Erzählebenen, die zusammen die Ausstellung und das Buch für den Betrachter vielleicht interessant machen.
Das Gespräch führte Michael Wuliger.
Die Ausstellung »Judenschule« ist vom 14. Januar bis 28. Februar in der Galerie F 92, Stadtteilzentrum am Teutoburger Platz, Fehrbelliner Straße 92, 10119 Berlin zu sehen. Das Buch zur Ausstellung kann bestellt werden über
www.tomsand.com
Thomas Sandberg wurde 1952 geboren und war bis 1989 Fotojournalist bei der »Neuen Berliner Illustrierten«. Er ist Mitbegründer der Agentur »Ostkreuz« und arbeitet für Spiegel, Stern und New York Times.