Darf ein Buch über den Holocaust unterhalten? Darf es zwischendurch immer wieder von einer fast angenehmen Leichtigkeit sein? Ein gutes Leben ist die beste Antwort von Friedrich Dönhoff ist ein solches Buch, das inmitten der nicht enden wollenden Fülle an Büchern über die Schoa noch einmal besonders hervorsticht.
Der Autor: Jahrgang 1967, Großneffe der ZEIT-Herausgeberin Marion Dönhoff, Krimiautor und Verfasser mehrerer Biografien. Sein Gegenüber: Jerry Rosenstein, Jahrgang 1927, aufgewachsen als Kind einer frommen jüdischen Familie im südhessischen Bensheim an der Bergstraße. Heute lebt er 87-jährig in San Francisco.
Zu zweit haben sie eine Reise unternommen, haben sich dabei auf charmante Weise angefreundet, sodass dieses Buch auch vom Entstehen einer tiefen Freundschaft erzählt – die vielleicht Bedingung dafür ist, dass der eine dem anderen von unsagbarem Leid erzählen kann, das aufgeschrieben und somit festgehalten für uns trotzdem aushaltbar und auch lesbar bleibt.
Ahnung Wie haben sie sich überhaupt kennengelernt? »Jerry ist mit jemandem befreundet, der mit meinen Eltern befreundet ist, und so haben ihn erst mal meine Eltern kennengelernt. Sie haben danach ständig gesagt: ›Lernt euch doch mal kennen, ihr werdet euch gut verstehen‹, und ich dachte: Okay, wenn es sich ergibt, gerne«, erzählt Dönhoff.
Und dann ist Rosenstein im Mai 2012 zu Besuch in Hamburg, die beiden treffen sich einfach so in seinem Hotel auf einen Tee – und verstehen sich auf Anhieb. »Wir haben uns damals zuerst gar nicht über seine Lebensgeschichte unterhalten, aber er erzählte etwas von einem runden Geburtstag, und mir wurde plötzlich klar: Der Mann ist 85! Für mich aber wirkte er so jung, so frisch wie 65«, sagt Dönhoff. Und langsam beginnt er zu ahnen, was für eine Geschichte dieser Jerry Rosenstein mit sich trägt.
Den Gedanken, über diese Lebensgeschichte ein Buch zu schreiben, weist Dönhoff zunächst von sich. Denn zum Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung ist gerade der dritte Band von Dönhoffs Krimireihe um den Hamburger Ermittler Sebastian Fink erschienen, und er hat sich fest vorgenommen, sofort die nächste Folge hinterherzuschieben und sich nicht wie zuvor durch andere Buchprojekte aus dem Takt bringen zu lassen. Aber beherrscht der Schriftsteller den Stoff, oder beherrscht der Stoff am Ende den Schriftsteller?
Stockholm Bald kann Dönhoff sich der Idee, ein Buch über das Leben von Jerry Rosenstein zu schreiben, nicht mehr entziehen. Sein Plan: Rosenstein auf einer Reise zu begleiten – und nicht einfach nur vom Schreibtisch aus sein Leben nachzuerzählen. Sie treffen sich ein zweites Mal, diesmal in Stockholm, verbringen zusammen ein Wochenende. »Es war, zugegeben, eine Art Test für mich, denn ältere Menschen können ja durchaus anstrengend und fordernd sein, aber unser Treffen war sehr amüsant. Und plötzlich waren wir auf den Spuren seiner Vergangenheit unterwegs.«
Aus der Idee wird ein Projekt, und die beiden verabreden sich erneut: in Amsterdam. Denn Amsterdam war die zweite, wenn auch kurze, Heimat, als die Rosensteins – Vater, Mutter, zwei der drei Söhne (Sohn Ernst emigriert nach Palästina) – 1936 den Nazis entkommen können. Bis diese im Mai 1940 die Niederlande überfallen und die Rosensteins im Januar 1943 von holländischen Polizisten, die mit den Deutschen kollaborieren, der SS übergeben werden. Zuvor musste sich schon der zweite Sohn Hans zu einem »Arbeitseinsatz« in Polen melden.
Die Eltern werden getrennt, Jerry bleibt mit seinem Vater zurück, ist bald ganz auf sich gestellt, endet in einem Außenlager von Auschwitz-Birkenau, während die Front näherrückt. Am Ende kommen Jerry und sein Vater durch glückliche Umstände wieder zusammen; die Spuren seines Bruders Hans verlieren sich in Birkenau; sein Bruder Ernst, der in Palästina in die britische Armee eingetreten ist, wird als Pilot über Albanien abgeschossen.
flucht Dönhoff erzählt in dem Buch gewissermaßen zwei Roadmovies: seine Reise mit Jerry Rosenstein per Auto von Amsterdam den Rhein entlang bis nach Bensheim. Und dazwischen geschnitten die Flucht der Rosenbergs aus Deutschland, ihr kurzes Leben in den Niederlanden und den Weg ihrer Deportation vom Lager Westerbork über Theresienstadt bis nach Auschwitz-Birkenau.
Es ist ein Weg voller Grauen und lebensrettender Zufälle, der nicht endet, als am 8. Mai 1945 Nazideutschland endlich kapituliert: Jerry und seinen Vater verschlägt es erst nach Rumänien, dann nach Czernowitz, nach Odessa, von wo aus ein Schiff sie via Istanbul nach Marseille bringt. In Paris treffen sie die Mutter wieder. Dann geht es endlich in die USA.
Drei Jahre lebt Jerry Rosenstein mit seinen Eltern in New York, versucht, dort Fuß zu fassen – und wird nicht recht glücklich. Eines Tages zieht er allein weiter nach San Francisco, wo er bis heute lebt: Für einen homosexuellen Juden ist das New York der Nachkriegszeit nicht ganz der richtige Ort. In San Francisco ist das etwas ganz anderes. Gläubig ist Jerry bisher nicht geworden, doch ist er Mitglied der in den Siebzigern gegründeten Congregation Sha’ar Zahav, die in San Francisco nur »die Synagoge der Schwulen« genannt wird.
Deutschland Noch auf andere Weise schert Rosenstein aus: Schon in den 50er-Jahren fährt er nach Deutschland, lässt sich von den empörten Reaktionen seiner Freunde, für die es unvorstellbar ist, in das Land der Täter zu reisen, nicht beeindrucken. Immer wieder kehrt er an den Rhein zurück, knüpft Kontakte zu jungen Deutschen, geht den älteren meist aus dem Weg. In den vergangenen Jahren spricht er auch vor Schülern und berichtet von seinem Leben.
Dönhoff erzählt all das mit beeindruckender und schnörkelloser Klarheit, mischt gekonnt die Lebensstationen von Jerry Rosenstein, die er in der Ich-Form nacherzählt, mit den Erlebnissen ihrer gemeinsamen Reise. Eben noch ist der Leser mit dabei, wenn Jerry von seiner Mutter getrennt wird und mit seinem Vater einen fensterlosen Güterwaggon Richtung Birkenau besteigen muss.
Nun sitzt er mit im Hotelzimmer, wird lesend Zeuge, wie Rosenstein, den morgens Albträume aus dem Schlaf reißen, im Internet Nachrichten und aktuelle Aktienkurse verfolgt; erfährt, wie Rosenstein auf den Todesmarsch geschickt wird, während er im nächsten Kapitel unbedingt an der Loreley haltmachen möchte und vom Krustenbrot in Rüdesheim-Assmannshausen schwärmt. »Er wird von einem Geschichtsmenschen zu einem ganz alltäglichen Menschen. Diesen Weg zu erzählen, war mir wichtig«, erklärt Dönhoff.
Fassbar wird so ein Mensch, der keinesfalls vergessen hat, was ihm angetan wurde, der aber seinen ganz eigenen Frieden mit dem geschlossen hat, was ihm geschehen ist. Sein Resümee am Ende: »Ein gutes Leben ist die beste Antwort.« Dieses gute Leben zu führen, damit wird Jerry Rosenstein nicht aufhören. In diesem Jahr will er wieder nach Deutschland kommen.
Friedrich Dönhoff: »Ein gutes Leben ist die beste Antwort – Die Geschichte des Jerry Rosenstein« Diogenes, Zürich 2014, 192 Seiten, 19,90 €