Eine Frage des Glaubens
Identität kann man nicht rational diskutieren
Das Thema Beschneidung hat sich plötzlich – nach vielen Jahrzehnten des Winterschlafs – medienträchtig zur Sensation entfaltet. Ein polemisches Reizthema, zumal es nicht nur das Judentum, sondern auch den Islam betrifft.
Die Geister scheiden sich hier radikal: einerseits die entschlossenen Gegner, die sich auf das Trauma des unmündigen, hilflos überrumpelten Säuglings berufen, andererseits die nicht weniger heftigen Befürworter, die den kulturell-traditionellen Wert der Beschneidung als unerlässlichen Teil der Identität des jeweiligen Volkes betrachten und bereit sind, ihn mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Eine dritte Partei, die die Thematik eher sachlich von der gesundheitlichen Seite angeht, hat an Einfluss und Gewicht verloren, da die Wissenschaft die hygienischen Vorteile der (wie in den USA routinemäßig durchgeführten) Beschneidung stark bezweifelt. Das Irrationale behauptet sich also.
irrationalität Daher diese Heftigkeit. Es ist ein großer Irrtum zu denken, dass man bei irrationalen Themen mit Argumenten, logischen Deduktionen und Beweisführungen, ob psychologischer oder kultureller Art, weiterkommt. Wer es versucht, wird bald merken, dass seine überzeugendste Argumentation am Widersacher abprallt. Und wer das nicht erkennt, verliert sich in einer hitzigen Polemik, die nicht einmal die geringste Spur einer Annäherung bewirken wird. Dem Irrationalen ist mit sachlichen Beweisführungen nicht beizukommen.
Nicht nur das Thema Beschneidung ist irrational. Irrationalität haftet dem Judentum schlechthin an. Alle, die Verfechter des Judentums als Glaubensgemeinschaft, als Nation, oder als Ethnie, haben recht und verfehlen gleichzeitig das Wesentliche. Freud, der jüdische Rationalist, hat das meiner Meinung nach am nachvollziehbarsten ausgedrückt, als er in seiner berühmt gewordenen Einführung zur hebräischen Ausgabe von Totem und Tabu zugab, sich vom Glauben, von der Sprache und den Bräuchen seiner Ahnen weit entfernt zu haben; und doch, wenn man ihn fragen würde, was an ihm jüdisch ist, würde er antworten: »Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache.« Freud selbst hoffte, diese Irrationalität würde eines Tages »der wissenschaftlichen Einsicht zugänglich« werden. Das ist verständlich: Der Begründer der Psychoanalyse kam aus der positivistischen Schule des wissenschaftlichen Glaubens im 19. Jahrhundert, die selbst einer Religion gleichkam.
traumata Doch handelt es sich beim Judentum nicht um eine Sache des Denkens, sondern des Fühlens; wie viele Rituale und Bräuche stehen auch die Gefühle für den Zusammenhalt und die Identität eines Volkes, dessen Geschichte sich in den letzten zwei Jahrtausenden im Wesentlichen in der Bedrohung, der Verfolgung und der Ausgrenzung abspielte. Wer heute die Brit Mila infrage stellt, kommt unweigerlich in die Position dessen, der einen zentralen Teil des Judentums zur Disposition stellt und damit die jüdische Identität schlechthin bedroht.
Wer der Brit-Mila-Zeremonie beigewohnt hat und Zeuge des Schmerzes eines verzweifelt schreienden Babys war, kann nicht umhin – es sei denn, er wehrt sein Mitgefühl zugunsten der »Einsicht« der traditionellen »Notwendigkeit«, die hier keine Argumentation zulässt, ab – zu konstatieren, dass es sich für den Säugling um eine eindeutige Traumatisierung handelt. Mit welchen Folgen? Darüber wissen wir wenig, und dann nur indirekt, von manchen Patienten, die vielleicht im Nachhinein das Gefühl haben, ohne ihr Einverständnis körperlich beschädigt worden zu sein.
kinderseele Der juristische Aspekt ist deutlich: Der Säugling kann nicht gefragt werden und kann nicht zustimmen. Aber Kinder können auch sonst den zahlreichen seelischen Manipulationen oder Indoktrinationen ihrer Umgebung nicht ausweichen. Sie werden nicht gefragt, weil die Erwachsenen zu wissen meinen, was für sie gut ist. Auch hier kann man oft von Traumatisierungen sprechen – von unterschwelligen, subtilen seelischen Traumatisierungen, die juristisch nicht zu erfassen sind und doch die Seele des Kindes verbiegen können.
Vielleicht können wir aus der Debatte um die Beschneidung lernen, unsere Empfindung für das Kind zu schärfen und unsere Aufmerksamkeit auszuweiten: von dem, was uns Erwachsenen wichtig ist, zu dem, was das Kind uns zeigt; unsere Fähigkeit verbessern, die Sprache des Kindes zu lernen, statt ihm unsere Sprache, unsere Überzeugungen aufzuzwingen.
Und vielleicht sollten wir aufhören, aus einer emotionalen Sache eine wissenschaftliche zu machen. Egon Fabian
Der Autor ist Chefarzt der Dynamisch-Psychiatrischen Klinik Menterschwaige in München und Autor des Buchs »Anatomie der Angst« (Klett-Cotta 2010).
Nur Mut
Wir Juden müssen offensiver werden
Innerhalb kürzester Zeit sind jetzt zwei antisemitische Schmutzwellen über das Land hinweggerauscht. Im April veröffentlichte Günter Grass jenen als Gedicht getarnten Leitartikel, in dem er den jüdischen Staat bezichtigte, er sei ein Welt brandstifter; im Sommer folgte die sogenannte Beschneidungsdebatte, in der Juden und Muslime beschuldigt wurden, sie seien so etwas wie Kinderschänder, die archaische Blutrituale praktizieren.
schwäche Fasst man beide Debatten aus der Ferne ins Auge, so fällt vor allem auf, dass sie offenbaren, wie schwach die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist. In New York etwa, einer Stadt, in der jeder fünfte Einwohner Jude ist, wären sie nicht denkbar. Würde ein Richter in der Bronx, ein Verbot der religiösen Beschneidung aussprechen, so stünden am nächsten Tag ein paar Tausend jüdische und muslimische Demonstranten mit Flüstertüten vor seiner Haustür. Unterstützt würde jene Demonstration von einer regenbogenbunten Koalition christlicher Gruppen, der Bürgermeister würde sprechen, und am Ende würde der Richter zum Gespött der ganzen amerikanischen Nation. Kein Rabbiner müsste sich demütigenden Frage- und Antwortspielen im Fernsehen unterziehen, die fatal an mittelalterliche Disputationen erinnern, bei denen Juden ihre Religion vor den Christen rechtfertigen mussten.
lehren Nun lässt sich daran, dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland zahlenmäßig schwach ist, leider nichts ändern. Trotzdem gibt es ein paar Lehren, die sich aus diesen antisemitischen Dreckwellen ziehen lassen.
Erstens: Manchmal lohnt es sich, keine Manieren zu haben. Wer in solchen Debatten – ganz gleich, worum es gerade geht – verbindlich ist und der anderen Seite entgegenkommen will, hat schon verloren. Frechheit siegt!
Zweitens: Wer schwach ist, braucht Verbündete. Ganz fatal wäre es, sich auf die Obrigkeit zu verlassen, und sei es eine demokratisch legitimierte. Die Erfahrung zeigt, dass auf den jeweiligen König, Bischof oder Kaiser kein Verlass ist; im Zweifel neigen die Herrschaften dazu, vor der Vox populi zu kapitulieren.
Drittens: Es lohnt sich auf lange Sicht, bei der Wahl von Verbündeten wählerisch zu sein. Wer etwa im Streit um Israel nichts dagegen hatte, mit muslimfeindlichen Rassisten zusammenzuarbeiten, der erlebt heute sein böses Erwachen. Hannes Stein