Der Chasaren-Mythos ist nicht totzukriegen. Es handelt sich dabei um die Auffassung, die Juden Osteuropas stammten von dem kaukasischen Reitervolk der Chasaren ab, dessen Oberschicht im achten Jahrhundert d. Z. zum Judentum übergetreten war. Der österreichisch-ungarische Orientalist Hugo von Kutschera vertrat im 19. Jahrhundert die These, die Chasaren seien, nachdem die Mongolen ihr Reich zerstört hatten, nach Osteuropa gezogen und hätten dort das aschkenasische Judentum gebildet.
Obwohl diese These von der Wissenschaft als spekulativ und unplausibel abgetan wird, wurde sie im 20. Jahrhundert aus verschiedenen Gründen wieder aufgegriffen. Der Schriftsteller Arthur Koestler wollte 1976 mit seinem Buch Der dreizehnte Stamm durch den Rückgriff auf die Chasaren dem rassischen Antisemitismus den Boden entziehen. Stattdessen wurde Koestler triumphierend von arabischen und sonstigen Antisemiten zitiert, die endlich den Beweis gefunden haben wollten, dass die heutigen Israelis gar nicht von den Juden des Nahen Ostens abstammten und somit kein Recht auf das Heilige Land hätten.
In jüngster Vergangenheit wurde der Chasaren-Mythos von dem israelischen Historiker Shlomo Sand in seinem Buch Die Erfindung des jüdischen Volkes (2008) wieder aufgewärmt. Auch Sand ging es darum, ein quasi historisches Recht der Juden auf das Land Israel zu bestreiten.
Erbgut Nun meldete sich der amerikanische Genetiker Eran Elhaik von der Johns Hopkins University im Dezember 2012 mit einem Artikel im Fachblatt »Genome Biology and Evolution« zu Wort. Darin schreibt er, er habe durch Vergleich des Erbguts von 1287 Personen aus jüdischen und nichtjüdischen Populationen herausgefunden, dass das Genom der aschkenasischen Juden zu großen Teilen mit dem kaukasischer Volksgruppen übereinstimme und nur zu einem geringeren Teil mit dem nahöstlicher Völker.
Damit sei, glaubt Elhaik, die »Rheinland-Hypothese« widerlegt, welche besagt, Juden, die aus dem historischen Palästina vertrieben worden waren, hätten sich irgendwann im Rheinland niedergelassen und seien Anfang des 15. Jahrhunderts nach Osteuropa weitergezogen, wo sie die jiddische Sprache und Kultur begründet hätten. Die aschkenasischen Juden, so der gebürtige Israeli Elhaik, hätten ihre genetischen Wurzeln im Kaukasus und nicht im Nahen Osten.
Das widerspricht allerdings einer Studie des renommierten Humangenetikers Harry Ostrer. Der hatte vor einigen Jahren die DNA von 237 Aschkenasim, Sefardim und Mizrachim untersucht, die in New York, Seattle, Thessaloniki, Athen, Rom und Israel lebten. Dabei stellte sich heraus, dass Juden in genetischer Hinsicht ein »abgrenzbares Bevölkerungscluster« darstellen, so Ostrer. Zudem weise die genetische Spur auf gemeinsame Vorfahren vor 2000 Jahren im nahöstlichen Raum hin. Gemeinsamkeiten in der DNA gab es auch mit heutigen Palästinensern, Drusen und Beduinen in Israel.
Schnitzer Die Kritiker Elhaiks weisen darauf hin, dass dessen Datenbasis viel zu dünn sei, um Ostrers Studie zu widerlegen. Der Nahostwissenschaftler Seth Frantzman wies dem Genetiker in der Jerusalem Post überdies einen peinlichen Schnitzer nach. Elhaik behauptet in seinem Artikel, 90 Prozent aller Juden weltweit seien Aschkenasim. Dazu zitiert er eine Erhebung aus dem Jahr 2013, die sich allerdings lediglich auf Juden in den USA bezieht. Weltweit sind nur etwa 80 Prozent aller Juden Aschkenasim. Dies spreche, so Frantzman, nicht für die Seriosität Elhaiks.
Für die »Rheinland-Hypothese« spricht außerdem die Linguistik. Kein Sprachwissenschaftler würde bestreiten, dass das Jiddische in Grammatik und Wortschatz eindeutig eng mit dem Mittelhochdeutschen verwandt ist, wie es im 15. Jahrhundert im Rheinland gesprochen wurde. Elhaiks Behauptung, das Jiddische sei ursprünglich eine slawische Sprache gewesen, die erst später deutsche Elemente in sich aufgenommen habe, dürfte in Fachkreisen für erhebliches Kopfschütteln sorgen.
Auf Nachfrage der Tageszeitung Haaretz modifizierte Eran Elhaik seine Chasaren-These denn auch gleich wieder. »Das Genom der europäischen Juden ist ein Flickenteppich aus antiken Volksgruppen wie judaisierten Chasaren, griechisch-römischen Juden, mesopotamischen Juden und Bewohnern Judäas«, so der 32-jährige Forscher. Bei Antizionisten wird dennoch nur eines hängen bleiben: dass Juden in den Kaukasus gehören und nicht in den Nahen Osten.
Eran Elhaik: »The Missing Link of Jewish European Ancestry: Contrasting the Rhineland and the Khazarian Hypotheses«. Genome Biology and Evolution, Dezember 2012, S. 61–74