Appell

Rettet das Lichtenberg-Kolleg!

Maulkorb für die Aufklärung? Bronzeskulptur Lichtenbergs im Akademiehof der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Foto: picture alliance/dpa

Inmitten all der vielen wertvollen Dinge, die unseren pandemisch geplagten Lebenswelten derzeit entgleiten, steht eine universitäre Institution kaum im Vordergrund. Aber hier stehe ich, eine israelische Historikerin, und wende mich mit einer Herzensbitte an Sie, Leserinnen und Leser in der ganzen Welt, und ich appelliere an die Bundesrepublik Deutschland: Verhindern Sie die Schließung eines kleinen Leuchtsterns humanistischer Forschung und Gelehrsamkeit in Deutschland – des Göttinger Lichtenberg-Kollegs! Lassen Sie mich das erklären.

Im November teilte die Georg-August-Universität Göttingen dem Direktor des Kollegs kurz, knapp und schroff mit, dass das Kolleg demnächst geschlossen werde. Der Brief datierte auf den 9. November – bestimmt keine bewusste Wahl des Jahrestages der Pogromnacht, aber vielleicht ein Zeichen der Erosion des bürokratischen Gedächtnisses an einer deutschen Aufklärungsuniversität.

Am intellektuellen Erbe Europas haben Juden und Deutsche einen enorm hohen Anteil.

Ich bin Mitglied des internationalen akademischen Beirats des Kollegs, und zusammen mit herausragenden Wissenschaftlern aus Europa, Amerika, Indien und Israel haben wir uns einstimmig dazu entschlossen, dieser Entscheidung den Kampf anzusagen. Wir haben das unangenehme Gefühl, dass sich hier hinter dem Alibi finanzieller Schwierigkeiten etwas anderes und Alarmierendes abspielt.

Es ist schwer zu begreifen, dass eines der wenigen herausragenden und wirklich kosmopolitischen Zentren geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung in Europa – so viel erkennt die Universität an – kurzerhand »vor die Säue geworfen« wird, um es mit Luther zu sagen.

MULTIDISZIPLINÄR Ursprünglich inspiriert von den Wissenschaftskollegien in Princeton und Berlin, umspannt das Lichtenberg-Kolleg die Sozial- und Geisteswissenschaften; darüber hinaus bewegt es sich in multidisziplinären Forschungsfeldern, beispielsweise den kognitiven Fähigkeiten von Primaten. Seine glanzvollen Vorbilder hat das Kolleg inzwischen eingeholt.

Wie? Mit einzigartiger Geselligkeit, Brillanz und Lebendigkeit, in einer menschlichen Gemeinschaft von Akademikern, die am Anfang, in der Mitte und am Ziel ihrer Laufbahn stehen, Menschen mit vielfältigen Biografien und Hintergründen, auch aus benachteiligten akademischen Kulturen. Herausragend im Bereich der Ideengeschichte, besonders der Aufklärung, und seit einigen Jahren unter interdisziplinärer Einbindung von Jüdischen Studien, hat das Kolleg eine seltene Mischung aus Exzellenz und Diversität zu schaffen vermocht. In einem anti-intellektuellen Zeitalter ist es ein Ort, der Intellektuelle fördern und unterstützen kann.

Von seinem Zuhause, der renovierten historischen Sternwarte in Göttingen, erbaut zu Goethes Zeiten, ist das Kolleg zu einem Licht vor sich verdunkelnden Himmeln geworden.

Als reisende Gelehrte und öffentliche Rednerin habe ich in den vergangenen zehn Jahren das Aufflammen von neuem europäischem Populismus, Rassismus und Antisemitismus hautnah miterlebt. Ich habe gesehen, wie er von den Straßen und den Rändern des Internets in den öffentlichen Diskurs und sogar bis in akademische Institutionen gedrungen ist. Aber von Göttingen aus leuchtet ein kleiner, heller Stern. Er steht für eine Tradition, die europäische Juden, darunter meine eigenen Vorfahren, mitgestaltet haben: die Geisteswissenschaften. Ihr Hauptanliegen ist es, den Studia humanitatis in ihrem tief menschlichen Sinn nachzugehen, im kritischen, unerschütterlichen Vertrauen auf Vernunft und Wahrheit.

ERINNERUNG Der Direktor des Kollegs, der angesehene niederländische Historiker Martin van Gelderen, ist einer der beiden Leiter eines laufenden Forschungs- und Editionsprojekts der Tagebücher von Anne Frank. Ich notiere ordnungsgemäß, dass die Universität – etwas vage – verspricht, dieses wissenschaftliche Projekt am Leben zu erhalten. Doch wie sicher ist die Erinnerung an Anne Frank, wenn der unmittelbare Kontext, diese feine intellektuelle Nahtstelle zwischen Humanismus und Kosmopolitismus – zwei Konzepte, die mit vergangenen Anschuldigungen gegen die Juden Europas so fatal verbunden sind –, schwach genug ist, um einfach so ausradiert zu werden?

Das akademische Leben und die Kulturpolitik Deutschlands sind mir vertraut. Wenn alles rund läuft und die Wirtschaft brummt, sind Regierungen und Universitäten wirklich großzügig und unseren gemeinsamen Zielen verpflichtet geblieben. Was mich jedoch mit Angst erfüllt, sind die Geschwindigkeit und die Unverblümtheit der Kehrtwende, sobald am Finanzhimmel Wolken aufziehen.

Ziehen Sie keine falschen Schlüsse: Das kleine Kolleg ist spottbillig im Vergleich zu Göttingens naturwissenschaftlichen Ins­titutionen und Fakultäten. Mit der Schließung des Kollegs wird die Universität ein wenig Geld sparen – und sie verspielt ihre Geschichte, ihre weiten Perspektiven, ihren Blick in die Sterne. Sie geht das Risiko ein, den Körper der Universität zu heilen, indem sie ihre Seele auslöscht.

VERPFLICHTUNG Meine Kollegen und ich möchten aus diesem Grund an die deutsche Bundesregierung appellieren: Bitte schreiten Sie ein! Nicht, um ein kleineres PR-Debakel einzudämmen, sondern wegen der deutschen Verpflichtung auf die höchsten moralischen Werte. Wenn nicht Sie, wer dann?

»Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten mäßig entstellt«, witzelte Georg Christoph Lichtenberg, der Göttinger Physiker und wortgewandte Aufklärer.

Es gibt eine weitere Lehre: Das intellektuelle Erbe Europas, an dem Juden und Deutsche einen enorm hohen Anteil haben, sieht sich täglich neuen Gefahren ausgesetzt, von der radikalen Linken ebenso wie von der extremen Rechten. Wir haben unser Lehrgeld bezahlt und wissen, dass wir, wenn Humanismus und Universalismus uns noch etwas bedeuten, alles dafür tun müssen, diese am Leben zu erhalten.

»Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten mäßig entstellt«, witzelte Georg Christoph Lichtenberg, der Göttinger Physiker und wortgewandte Aufklärer, nach dem das Lichtenberg-Kolleg benannt ist. Die Lügen-Akrobaten und Hass-Schürer von heute haben es nicht nur auf Minderheiten und liberale Demokraten abgesehen; sie zielen auf den Humanismus selbst und auf die Geistes- und Humanwissenschaften. Lassen Sie es nicht zu, dass institutionelle Naivität und akademische Sparsamkeit ihnen dabei unter die Arme greifen.

Die Autorin ist emeritierte Professorin für Geschichte an der Universität Haifa. Zu ihren zahlreichen Veröffentlichungen gehört »Translating the Enlightenment« (1995). Zusammen mit ihrem Vater Amos Oz veröffentlichte sie »Jews and Words« (2012), deutsche Ausgabe: »Juden und Worte« (Suhrkamp 2013).

Aufgegabelt

Mazze-Sandwich-Eis

Rezepte und Leckeres

 18.04.2025

Pro & Contra

Ist ein Handyverbot der richtige Weg?

Tel Aviv verbannt Smartphones aus den Grundschulen. Eine gute Entscheidung? Zwei Meinungen zur Debatte

von Sabine Brandes, Sima Purits  18.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  18.04.2025

Kulturkolumne

Als Maulwurf gegen die Rechthaberitis

Von meinen Pessach-Oster-Vorsätzen

von Maria Ossowski  18.04.2025

Meinung

Der verklärte Blick der Deutschen auf Israel

Hierzulande blenden viele Israels Vielfalt und seine Probleme gezielt aus. Das zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um die Rede Omri Boehms in Buchenwald

von Zeev Avrahami  18.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  17.04.2025

Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Zum Gedenken an die Befreiung des Lagers Sachsenhausen werden noch sechs Überlebende erwartet. Was das für die Erinnerungsarbeit der Zukunft bedeutet

 17.04.2025

Bericht zur Pressefreiheit

Jüdischer Journalisten-Verband kritisiert Reporter ohne Grenzen

Die Reporter ohne Grenzen hatten einen verengten Meinungskorridor bei der Nahost-Berichterstattung in Deutschland beklagt. Daran gibt es nun scharfe Kritik

 17.04.2025

Interview

»Die ganze Bandbreite«

Programmdirektorin Lea Wohl von Haselberg über das Jüdische Filmfestival Berlin Brandenburg und israelisches Kino nach dem 7. Oktober

von Nicole Dreyfus  16.04.2025