Die gute Nachricht vorweg: Die documenta 16 hat mit Naomi Beckwith endlich eine Künstlerische Leitung – mit der Betonung auf »eine«. Denn die vom indonesischen Künstler- und Kuratorenkollektiv »ruangrupa« mit allseitiger Billigung praktizierte, umfängliche Verantwortungsdiffusion galt im Nachgang als eine der Hauptursachen für das Zustandekommen und das katastrophale Management der Antisemitismusskandale vor und während der documenta fifteen im Jahr 2022.
Wie angeschlagen die Kasseler »Weltkunstausstellung« bis heute ist, zeigt sich an der ungewöhnlich späten Ernennung der verantwortlichen Kuratorin – die ursprüngliche Findungskommission trat im November 2023 im Streit um den Umgang mit den islamistischen Terrormassakern vom 7. Oktober zurück. Umso euphorischer lasen sich die Äußerungen der maßgeblich verantwortlichen Politiker, als in Kassel am 18. Dezember die New Yorker Kuratorin Naomi Beckwith als Künstlerische Leiterin der für Sommer 2027 geplanten documenta 16 vorgestellt wurde.
»Heute fällt mir ein Stein vom Herzen«, schrieb Hessens Staatsminister für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur, Timon Gremmels (SPD), auf Instagram. »Insgesamt ist die documenta nun auf einem sehr guten Weg«, befand Kulturstaatsministerin Claudia Roth in einer Pressemitteilung.
Die Grünen-Politikerin verwies auch auf die Einrichtung eines wissenschaftlichen Beirats, der die Geschäftsführung und den Aufsichtsrat berät. Auch nimmt der Bund wieder seine zuvor verwaisten Sitze im Aufsichtsrat wahr, in dem auch das Land Hessen und die Stadt Kassel vertreten sind. Die Ernennung von Naomi Beckwith zur Künstlerischen Leiterin sei »eine sehr gute Nachricht für die nächste documenta«, freute sich Roth.
Beckwith ist stellvertretende Direktorin am Guggenheim Museum in New York
Wer ist die Frau, auf der nun die Herkulesaufgabe lastet, die weltweit renommierte Großausstellung wieder in ruhigeres Fahrwasser zu lenken? Die 1976 in Chicago geborene Naomi Beckwith ist derzeit stellvertretende Direktorin und Chefkuratorin am Guggenheim Museum in New York. Zu ihrem Aufgabenbereich gehören Sammlungen, Ausstellungen, Publikationen, kuratorische Programme und Archive des in einem ikonischen Frank-Lloyd-Wright-Bau auf der Fifth Avenue untergebrachten Museums. Beckwith verantwortet zudem die strategische Ausrichtung innerhalb des weltweiten Guggenheim-Museumsnetzwerks, das sich bis nach Abu Dhabi, Bilbao und Venedig erstreckt.
Sie werde jedes Objekt in der Ausstellung kennen, sagt Naomi Beckwith: »Antisemitismus ist nicht erlaubt.«
Zuvor war sie unter anderem Chefkuratorin am Museum of Contemporary Art in Chicago, wo sie zu Themen wie Identität und Schwarze Kultur in der zeitgenössischen Kunst arbeitete. Mit ihr, sagte Naomi Beckwith bei der Pressekonferenz, seien böse Überraschungen ausgeschlossen (gemeint war offenbar das Gemälde des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi mit antisemitischer Bildsprache bei der documenta fifteen). Sie werde jedes Objekt in der Ausstellung kennen: »Antisemitismus ist nicht erlaubt.«
Seit 2007 hat Naomi Beckwith, wie sie selbst berichtet, jede documenta gesehen. In einem Interview mit dem »Spiegel« sagte sie zu ihrer Berufung als Künstlerische Leitung: »Für mich fühlt es sich wie eine Verlobung an. Als hätte ich gerade den Ring bekommen.« Sie wolle am globalen Auftrag der documenta festhalten »und an der Tradition, die bildende Kunst mit der darstellenden Kunst zu verbinden«.
Die neue Künstlerische Leitung der documenta gilt als professionelle Kulturmanagerin
Beckwiths Lebenslauf sendet mehrere Signale aus: Zuallererst wird die documenta nach dem krachend gescheiterten ruangrupa-Experiment in die Hände einer professionellen Kulturmanagerin gelegt, die sowohl die intellektuelle als auch die administrative Seite des Kuratorenberufs kennt und beherrscht. Aus Chicago und New York bringt Beckwith einen höchstwahrscheinlich routinierten Umgang mit vielstimmigen Förder- und Verwaltungsgremien mit, der sie zumindest ansatzweise für die komplexe Gemengelage der bei der documenta involvierten staatlichen Akteure vorbereiten dürfte.
Dass Naomi Beckwith keinerlei Berührungsängste oder Vorbehalte im Umgang mit jüdischen Künstlern und Kuratoren mitbringt, darf ebenfalls als gesichert gelten. Zudem stellte sie in Chicago die israelische Künstlerin Keren Cytter aus und kuratierte die Schau Homebodies, an der auch der Israeli Guy Ben-Ner teilnahm.
In Chicago stellte Naomi Beckwith die Israelin Keren Cytter aus und kuratierte die Schau Homebodies, an der auch der Israeli Guy Ben-Ner teilnahm.
»Die Ausstellung, die Deutschland braucht, ist eine, die den Frieden mit den Künstlerinnen und Künstlern wiederherstellt. Für mich ist auch das ein Ziel«, kündigte Backwith im »Spiegel« an. Ob die documenta 16 weitgehend skandalfrei über die Bühne gehen wird, ist indes nicht ausgemacht. Denn auch Beckwith wird den im »progressiven« Segment der Kunstwelt zum Megatrend aufgestiegenen politischen Aktivismus mitsamt obsessiver negativer Fixierung auf den Staat Israel nicht ignorieren können.
»Kultur ist ein Ort des politischen Diskurses«
Identitätspolitische Themen zählen zu den Schwerpunkten der afroamerikanischen Kuratorin, was zwar nicht zwingend eine Neigung zur plakativen Palästina-Solidarität mit sich bringt, sie aber auch nicht per se ausschließen muss.
Nach dem Skandal um die Fotografin und BDS-Aktivistin Nan Goldin gefragt, sagte Beckwith im Interview: »Das ist die Situation, in der wir uns gerade befinden. Und genau das meine ich mit einer Ausstellung, die Deutschland braucht. Kultur ist ein Ort des politischen Diskurses, die Leute gehen nicht in Rathäuser oder Parlamente, sie gehen in Museen. Das ist es, was mich fasziniert.«
Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird der Nahostkonflikt auch eine Rolle bei der documenta 16 spielen. Entscheidend wird sein, ob es Beckwith gelingt, sich in die Eigenheiten und Empfindlichkeiten der deutschen Antisemitismusdebatte hineinzuversetzen und sie zugleich mit den Diskursen der internationalen Kunstwelt zu versöhnen, sofern dies überhaupt möglich ist.
»Ihr Vorschlag für die documenta 16 widmet sich künstlerischen Praktiken, die uns Werkzeuge an die Hand geben, um gemeinsam über mögliche Zukünfte nachzudenken«, schrieben Yilmaz Dziewior und Mami Kataoka im Namen der sechsköpfigen Findungskommission über Beckwiths Ausstellungskonzept. Noch klingt es offen und vage, und so bleibt abzuwarten, bis etwa erste Künstlernamen bekannt werden. Fest steht jedoch, dass eine der »möglichen Zukünfte«, die 2027 in Kassel verhandelt wird, die Zukunft der Institution documenta ist.