Herr Kalinowsky, über kein Musikinstrument werden so viele Witze erzählt wie über die Viola. Lachen Sie auch in Ihrer Geburtsstadt über die nachgesagte Gemütlichkeit und über das angeblich begrenzte Können der Bratscher?
Sehen Sie, Bratschenwitze sind international. Ich bin auch Mitglied der Deutschen Viola Gesellschaft, in der wir Musiker im ständigen Kontakt miteinander stehen. Wir tauschen seltene Notenraritäten – und natürlich auch Bratschenwitze – aus.
Sie haben den ersten Geigenunterricht von Ihrem Vater Naum Kalinowsky erhalten. Mit 17 Jahren entschieden Sie sich, auf das tiefere und größere Instrument umzusteigen. Was hat die Viola, was die Violine nicht hat?
Mehrere Leute denken, dass der einzige Unterschied zwischen diesen Instrumenten die Größe sei. Aber das ist nicht so. Bis heute gibt es keine Standardmaße. Die alten Italiener haben beispielsweise sowohl kleine als auch große Bratschen gebaut. Da es keine festgelegten Maße gibt, gibt es somit auch keine einheitliche Klangfarbe. Die Instrumente haben immer einen eigenen Charakter. Das ist ein echter Reichtum, die Bratsche hat damit ein vielfältiges Klangspektrum.
Haben die Komponisten auch diese Erkenntnis geteilt? Es heißt ja immer, die Literatur für Bratsche sei begrenzt und übersichtlich.
Bedeutende Komponisten haben das Instrument sehr gerne gemocht. Schostakowitsch hat im Krankenbett vor seinem Tode sein letztes Werk für die Viola geschrieben. Béla Bartók, Paul Hindemith, György Ligeti – alle haben wunderschöne Stücke komponiert. So gab es auch immer mehr Aufmerksamkeit.
Sie haben ein Konzertprogramm mit dem Titel »Viva Viola« entworfen.
Ja, und das Publikum mag es sehr. Die Bratsche kommt immer mehr aus dem Schatten der Geige und des Cellos hervor. Für mich war es wichtig, dass meine Vorstellung über die Klangfarbe stimmt. Jede der vier Saiten der Bratsche hat einen individuellen Charakter. Die Zuhörer sind begeistert von der Vielfalt.
Vor Kurzem haben Sie und Ihre Frau, die Pianistin Bella Kalinowska, eine CD mit dem Titel »Das Lied der Mirjam« herausgebracht, die unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein steht und auch von der Stiftung »Zurückgeben« gefördert wurde. Wie haben Sie das geschafft?
Wir haben nach Werken von jüdischen Komponistinnen recherchiert, haben sie gesammelt, bearbeitet und aufgenommen. In Schleswig-Holstein werden mehrere Kulturprojekte gefördert, von denen anerkannt wird, dass sie für das Land eine Bedeutung haben. Wir hatten einen Förderungsantrag gestellt, der die Kommission überzeugte, ebenso bei der Berliner Stiftung »Zurückgeben«.
Ist es schwer, andere von solch einem Projekt zu überzeugen?
Glücklicherweise ist es uns gelungen, viele Gleichgesinnte zu finden. Es sind sowohl einzelne Personen als auch Institutionen, die die Auseinandersetzung mit vergessenen jüdischen Komponistinnen wichtig finden. In einer Rezension wurden wir, meine Frau Bella und ich, »Retter der vergessenen Musik« genannt. Wir sind immer auf der Suche nach Raritäten und Werken von wenig bekannten Komponisten, die im Schatten geblieben sind, und wir versuchen, diese mehr ins Rampenlicht zu rücken.
Sind diese Konzerte gefragt?
Ja, absolut. Das musikbegeisterte Publikum reagiert mit Interesse, die Konzertveranstalter bemühen sich nicht selten um eine erfolgreiche Kooperation mit den zuständigen Institutionen, wie Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Forschungsstellen für vergessene Musik. In Deutschland gibt es mehrere renommierte Forschungsstellen, Archive und Bibliotheken, deren thematischer Schwerpunkt Musik von Komponistinnen ist, wie zum Beispiel das Frankfurter Archiv »Frau und Musik«. Wir sind in Kontakt mit ihnen.
Sie haben ebenfalls eine CD mit dem Titel »Jewish Prayer« mit Werken für Viola und Orgel aufgenommen. Was hat Sie daran gereizt?
Diese Musik wurde für die Synagoge geschrieben. Natürlich wurde mehr Musik für Chor und Orgel geschrieben, es gibt deutlich weniger Instrumentalmusik. Doch es existieren wunderschöne Stücke, die noch auf ihre Wiederentdeckung warten. In der Blütezeit der jüdisch-liturgischen Musik entstand ein neues, reiches musikalisches Repertoire, das sich zu einem festen Bestandteil des allgemeinen Kulturgutes entwickelte, man nehme als Beispiel das berühmte »Kol Nidre« von Max Bruch. Diese reiche musikalische Tradition erfuhr in der Nazizeit ein tragisches, gewaltsames Ende. Ich sehe das als eine wichtige künstlerische Aufgabe, dem Wiederbeleben dieser Musik zu verhelfen. Zu meiner großen Freude erfahre ich dabei tatkräftige Unterstützung von namhaften Organisten.
Ein weiteres Programm heißt »Schalom. Kirche trifft Synagoge«.
Dieses stellt einen interreligiösen musikalischen Dialog dar.
Angelehnt an die reichen Traditionen der christlichen Orgelmusik und der jüdischen Liturgie, vereint es in einem einzigartigen Konzept die beliebten Repertoire-Klassiker mit den wertvollen, in Vergessenheit geratenen Werken, die wir infolge unserer intensiven Forschung entdeckt haben. Es gibt Musik aus den vorherigen Jahrhunderten, aber auch jüngere, moderne Werke.
Sie gehen in die Archive, um zu suchen und zu finden. Welches gefundene Werk hat Sie besonders begeistert?
Im Stadtarchiv Worms entdeckte ich ein Werk des Komponisten Friedrich Gernsheim, der der romantischen Epoche angehörte. Er schrieb wunderschöne Kammer- und Orchestermusik. Sein Stück »Elohenu. Hebräischer Gesang«, ursprünglich für Cello und Orchester, hat mich sofort fasziniert.
Sie bearbeiten Werke für die Bratsche, die dann gedruckt werden. Ist es leicht, einen Verlag zu finden?
Am Anfang war es eher schwer, weil der Markt ausgeschöpft ist. Jeder Musikverlag hat seinen eigenen Schwerpunkt. Wir haben mit Furore, einem Verlag, der sich ausschließlich der Musik von Komponistinnen widmet, angefangen, und dann konnten wir langsam Kooperationen mit anderen Verlagen entwickeln. Mittlerweile sind unsere Notenausgaben bei Schott, Edition Peters und Hofmeister Musikverlag erschienen. Bei dem Robert Lienau Musikverlag erscheint eine ganze Reihe von unseren Bearbeitungen für Viola und Klavier, die meine Frau und ich ins Leben gerufen haben.
Mit dem Musiker sprach Christine Schmitt.
Semjon Kalinowsky wurde in der Ukraine geboren und errang schon früh mit seiner Geige mehrere Preise bei verschiedenen Wettbewerben. Mit 13 Jahren hatte er sein Orchesterdebüt, mit 17 wechselte er zur Bratsche und studierte ab 1979 an der Staatlichen Hochschule für Musik Lemberg. Kalinowsky war Stipendiat des Polnischen Kulturministeriums. Für seine Tätigkeit wurde er 1998 vom Präsidenten der Ukraine mit dem Titel »Verdienter Künstler der Ukraine« ausgezeichnet.
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