Carlo Strenger

Ressentimentfreier Standpunkt

Ein linker Warner vor Dschihadismus und Political Correctness. Zum Tod des Autors und Psychoanalytikers

von Roland Kaufhold  31.10.2019 11:53 Uhr

Carlo Strenger sel. A. Foto: Heinrich Böll Stiftung

Ein linker Warner vor Dschihadismus und Political Correctness. Zum Tod des Autors und Psychoanalytikers

von Roland Kaufhold  31.10.2019 11:53 Uhr

Carlo Strengers öffentlichkeitswirksame Interventionen zu hören, war für mich eine Ermutigung: Kahlköpfig, bebrillt, besonnen, humorvoll, konzentriert und voller Energie präsentierte er sich in Interviews. Soeben ist Carlo Strenger im Alter von 61 Jahren in Tel Aviv verstorben. Er starb, auch dank medizinischem Marihuana, ohne Schmerzen, »in peace and with­out suffering, surrounded by love«, teilte seine Ehefrau Julia Elad Strenger mit.

Linker Der in Zürich als Kind einer jüdischen Familie aufgewachsene und als nichtreligiöser Jude nach Israel übergesiedelte Psychoanalytiker, Kolumnist und Hochschullehrer verstand sich als ein israelischer Linker. Konservative Angriffe gegen ihn amüsierten ihn. In seinen in »Haaretz«, der NZZ sowie dem »Guardian« publizierten politischen und kulturtheoretischen Kolumnen trat der psychoanalytische Freigeist für einen politischen Ausgleich und für einen ressentimentfreien Standpunkt ein.

Konservative Angriffe gegen ihn amüsierten ihn.

Selbstreflexion und eine rationale Lösung von politischen Konflikten seien jederzeit möglich. Im Gaza-Krieg 2014 unterstützte der international verankerte Terrorismusexperte die militärische Reaktion seiner Regierung auf den von der Hamas herbeigebombten Krieg. Dennoch beharrte er darauf, dass eine kluge Politik die Hamas in ein Zweckbündnis einbinden könne. Innerisraelische Angriffe gegen Friedensbemühungen und deren Protagonisten empörten ihn.

Werte In seinen in zahlreichen Sprachen publizierten Büchern setzte sich der in Tel Aviv sowie in New York aktive Hochschullehrer für eine – so lautete eines seiner Werke – »zivilisierte Verachtung« ein: Gerade als Israeli müsse man seine Todfeinde kennen. Verleugnung sei kein guter Ratgeber. Dem internationalen Terrorismus sollten wir nicht mit einem antimuslimischen Ressentiment, sondern mit einem stolzen Bekenntnis zu unseren eigenen Werten begegnen: »Zivilisiert bedeutet, die eigene Kultur zu lieben, ohne andere Kulturen zu hassen.«

Terror müsse eindeutig benannt werden, und man müsse ihm entschlossen entgegentreten. Seinen entschiedenen Widerspruch fand die unter Linken populäre »politischen Korrektheit«. Diese lähme die Linke und fördere eine apolitische Selbstanklage. Das Scheitern der Linken in Israel und Europa sei selbstverschuldet, hob der lebenszugewandte begeisterte Motorradfahrer und Hundeliebhaber hervor. Der Rechtspopulismus, hinter dem sich Antisemitismus verberge, stelle eine existenzielle Gefahr dar.

Motivation »Menschen brauchen ideologische Schutzschilde, um mit ihrer Endlichkeit und Verletzlichkeit leben zu können.« Im Geiste von Erich Fromm insistierte er: Die Furcht vor der Freiheit sei »die tiefste Motivation für unmenschliche Handlungen«. Freiheit sei kein Geschenk, keine Selbstverständlichkeit. Sie müsse im Alltag und tagtäglich verteidigt werden.

»Menschen brauchen ideologische Schutzschilde, um mit ihrer Endlichkeit und Verletzlichkeit leben zu können.«Carlo Strenger

Die Terroranschläge in Paris, Brüssel und Berlin hätten verhindert werden können, meinte er. Da bleibe Israel mit seinen seit seiner Staatsgründung aufgenötigten traumatischen Erfahrungen ein Vorbild: »Ein Lastwagen käme da bei einer Terrorattacke keine 150 Meter weit.«

Internet Für den heutigen Terrorismus sei eine fanatische dschihadistische Geisteshaltung verantwortlich, dazu passe das Internet ideal: »Im Internet gibt es jede Menge Anleitungen, wie man eine Bombe baut und möglichst viele Opfer schafft. Die Attentate sind von Kleingruppen organisiert.«

Die Führungsschicht der Dschihadisten bestehe »aus intelligenten Akademikern, Ärzten und Ingenieuren. Sie bekämpfen das friedliche Zusammenleben« und hingen einer außerordentlich destruktiven Ideologie an. Der Terror in Europa werde andauern, warnte Strenger.

»Wenn wir unsere liberalen Demokratien schützen wollen, müssen wir unseren öffentlichen Diskurs härter regulieren. Wir müssen fähig sein, unserer Entrüstung Ausdruck zu geben.« Die Vorstellung eines Scheiterns des Projekts einer europäischen Integration machte ihm Angst. Carlo Strengers Stimme wird fehlen.

Theater

Wenn Schicksale sich reimen

Yael Ronens »Replay« erzählt die Geschichte einer DDR-Familie in Zyklen

von Leonie Ettinger  22.12.2024

Gute Vorsätze

100 Prozent Planerfüllung

Warum unsere Redakteurin 2025 pünktlicher sein will als die Deutsche Bahn

von Katrin Richter  22.12.2024

Meinung

Eine Replik von Eva Menasse auf Lorenz S. Beckhardts Text »Der PEN Berlin und die Feinde Israels«

von Eva Menasse  21.12.2024

Hessen

Darmstadt: Jüdische Gemeinde stellt Strafanzeige gegen evangelische Gemeinde

Empörung wegen antisemitischer Symbole auf Weihnachtsmarkt

 19.12.2024 Aktualisiert

Kino

Film-Drama um Freud und den Lieben Gott

»Freud - Jenseits des Glaubens« ist ein kammerspielartiges Dialogdrama über eine Begegnung zwischen Sigmund Freud und dem Schriftsteller C.S. Lewis kurz vor dem Tod des berühmten Psychoanalytikers

von Christian Horn  19.12.2024

TV-Tipp

»Oliver Twist«: Herausragende Dickens-Verfilmung von Roman Polanski

Sittengemälde als düstere Bestandsaufnahme über die geschilderte Zeitperiode hinaus

von Jan Lehr  19.12.2024

Literatur

Gefeierter Romancier und politischer Autor: 150 Jahre Thomas Mann

Seine Romane prägten eine Epoche und werden noch heute weltweit gelesen. Zugleich war Thomas Mann auch ein politischer Autor, woran im Jubiläumsjahr 2025 zahlreiche Publikationen erinnern

von Klaus Blume  19.12.2024

Glosse

Kniefall 2.0

Ist Markus Söder jetzt alles Wurst oder erfüllt er nur die Erwartungen der jüdischen Gemeinschaft?

von Michael Thaidigsmann  19.12.2024

Aufgegabelt

Einstein-Lachs-Tatar

Rezept der Woche

 19.12.2024