Der »rasende Reporter« fliegt in einem Militärflugzeug über die Lagunenstadt Venedig. »Winzige Borstenhärchen am Rande der Riva degli Schiavoni sind friedliche Gondeln, Bekannte aus vergangener Zeit«, notiert er. Ein andermal mischt er sich in Verkleidung unter die Ärmsten in einem Londoner Elendsquartier: »Mein Kostüm war mir fast übertrieben zerfetzt erschienen, als ich es angelegt hatte.« Und in Österreich ist er dabei, als ein Serieneinbrecher niedergeschossen wird.
Der »rasende Reporter« - das ist Egon Erwin Kisch, der vor 75 Jahren, am 31. März 1948, in Prag starb. Der legendäre Journalist und Schriftsteller wurde nur 62 Jahre alt - und erlebte doch mehr als viele andere. Als Berichterstatter in Prag, Berlin und Wien erhob Kisch, der aus einer deutschsprachigen jüdischen Familie stammte, die Reportage in den Rang von Literatur.
Gedenkplakette Das Haus, in dem Kisch am 29. April 1885 geboren wurde, ist in einer kleinen Seitenstraße der Prager Altstadt zu finden. Am wunderschönen Renaissancegebäude »Zu den zwei goldenen Bären« gehen viele Touristen achtlos vorbei. Sie sind auf dem Weg zur nahen Prager Rathausuhr. Eine Gedenkplakette an der Ecke der heutigen Melantrich- und Kozna-Gassen erinnert an Kisch, der hier mit vier Brüdern seine Kindheit verbrachte. Seine Eltern betrieben im Erdgeschoss eine Tuchhandlung.
In der Realschule galt Kisch nur als mittelmäßiger Schüler, doch schon früh veröffentlichte er erste Gedichte. Dafür legte er sich das Pseudonym »Erwin« zu, denn Publizieren hatte die Schulleitung verboten. Es wurde zu seinem zweiten Vornamen. Kurz besucht Kisch eine Journalistenschule in Berlin, später taucht er als Reporter der Zeitung »Bohemia« in die Prager Unterwelt ein, die ihm schier unerschöpflichen Stoff bietet.
Der endgültige Durchbruch kam mit einer Spionageaffäre. Der Nachrichtenoffizier Alfred Redl wurde im damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Prag des Geheimnisverrats an Russland überführt. Er nahm sich das Leben. Die Behörden wollten den Skandal vertuschen, doch Kisch kam ihnen auf die Schliche. Um die Zensur zu umgehen, veröffentlichte er seinen Bericht geschickt in der Form eines angeblichen offiziellen Dementis der Behörden.
Dampfkessel Wenn man Kischs Reportagebände heute durchliest, reibt man sich manchmal die Augen. Kann er das wirklich selbst erlebt haben? Wie kommt der Prager in den Maschinenraum des Transatlantik-Liners »Vaterland« mit seinen 46 Dampfkesseln? Antworten gibt eine neue Biografie von Christian Buckard, die zum 75. Todestag Kischs im Berlin Verlag erschienen ist. Der Verfasser zeichnet darin akribisch die »Weltgeschichte des rasenden Reporters« nach.
Und so erfahren wir, dass Kisch 1914 neben anderen Pressevertretern zur Jungfernfahrt der »Vaterland« von Hamburg nach Southampton eingeladen war. Dass er in seiner Reportage nicht den Luxus an Bord schildert, sondern die schuftenden Heizer in den Blick nimmt, ist bezeichnend für den sozial engagierten Kisch. Nach dem Ersten Weltkrieg stellte er sich kurz an die Spitze der »Roten Garde«. Später wurde er Kommunist und hielt bis zu seinem Tod zum sowjetischen Diktator Josef Stalin.
Kein Geheimnis ist, dass Kisch mitunter zu Übertreibungen neigte und es mit der Wahrheit nicht immer so ganz genau nahm. »Nach Kischs Auffassung musste vielleicht nicht alles Wort für Wort stimmen«, schreibt sein Biograf Buckard, »aber alles musste letztlich doch wahrhaftig sein.« Vielleicht war Kisch also doch eher Schriftsteller als Journalist. Der Kaffeehausliebling gab seine Geschichten am liebsten vor Publikum zum Besten. »Der erzählende und erklärende Alltagsschauspieler Kisch, das war Theater als unterhaltsamer Königsweg zur Selbst- und Welterkenntnis«, schreibt sein Biograf.
Buckard geht besonders der Frage nach, welche Rolle Kischs Identität als Jude in seinem Leben spielte. Ein Zionist, der seine Zukunft in Israel sah, war er ganz gewiss nicht - aber er lehnte den Zionismus auch nicht ab. Vor den Nationalsozialisten floh er nach Mexiko. Als Kisch nach dem Holocaust zurückkehrte, gab es sein jüdisches Prag nicht mehr. Einmal offenbarte er: »Die jüdische Hälfte meiner Freunde habe ich nicht mehr gesehen, aber über das Schicksal dieser Abwesenden mehr Nachricht bekommen, als mir lieb war. Eine »Klagemauer« war das hier in der Wohnung.«