Igor Tantlewski hatte sich jahrelang für die Gründung eines Lehrstuhls für Jüdische Kultur an der Staatlichen Universität St. Petersburg (SPBGU) starkgemacht. Auf seinem Marsch durch die Instanzen holte er die Zustimmung des Universitäts-Senats ein, versicherte sich der Unterstützung von Prorektor Chudolej und gewann Universitätsrektor Kropatschow als Mitstreiter. Im November muss noch der Wissenschaftsrat der SPBGU zustimmen. Tantlewski ist optimistisch, dass er dann den neuen Lehrstuhl leiten wird.
Sichtlich zufrieden führt der 49-Jährige durch das klassizistische Gebäude auf der Petersburger Wassili-Insel, in dem schon das im Jahr 2000 gegründete Zentrum für Bibel- und Jüdische Studien Platz fand und in dem der Lehrstuhl als dessen Nachfolgeinstitution untergebracht sein wird. »Die Gründung bringt zunächst einmal einige materielle Verbesserungen«, freut sich Tantlewski. »Außer den relativ kleinen Hörsälen, die Sie hier links und rechts des Hauptgangs sehen, dürfen wir mit unseren 50 Studierenden in Zukunft auch die großen Auditorien der Universität nutzen.« Noch entscheidender aber ist: Der Lehrstuhl wird ein größeres Budget vom Staat erhalten als bisher das Zentrum. Das erhöht die Möglichkeiten in Forschung und Lehre. Neben seiner eigenen Stelle und der seiner Mitarbeiterin will Tantlewski acht weitere feste Arbeitsstellen schaffen.
archivschätze St. Petersburg schickt sich an, an eine fast vollständig vergessene Tradition anzuknüpfen: Mitte des 19. Jahrhunderts war die Hauptstadt des Zarenreichs Wiege und Zentrum der russischen Judaistik. Damals entstanden in der gebildeten Gesellschaft Kreise, die sich erstmals wissenschaftlich mit dem Judentum beschäftigten. Aus dem gesamten russischen Imperium, aus Polen, den baltischen Staaten und anderen Ländern gelangten jüdische Dokumente und Handschriften in großer Zahl in die Metropole an der Newa. Zu den geschätzt zwischen 20.000 und 30.000 Schriftstücken, die bis heute in zahlreichen staatlichen Archiven und Bibliotheken in St. Petersburg lagern, zählen solche Schätze wie der Codex Petropolitanus, die älteste datierte und vollständigste masoretische Handschrift der Bibel.
Doch weder in der damaligen Blütezeit noch in den folgenden Jahrzehnten konnten selbst einflussreiche Fürsprecher die Gründung eines Lehrstuhls für Jüdische Kultur an einer Petersburger Universität durchsetzen. Im 19. Jahrhundert scheiterten die Bemühungen des Barons David Ginsburg am latenten Antisemitismus von Regierung und Verwaltung. Und unter den Bolschewisten zu Zeiten der Sowjetunion war an die Einrichtung eines Lehrstuhls erst recht nicht zu denken.
brain-drain »Unter der Regierung Putin wurde die wissenschaftliche Beschäftigung mit Hebräisch und Judaica in Russland wieder möglich«, sagt Tantlewski. Dass der Lehrstuhl jetzt zudem an der SPBGU entsteht, der Universität, an der Premierminister Putin und Präsident Medwedew studierten und die heute von den beiden führenden Staatsmännern protegiert wird, ist für Tantlewski auch ein politisches Signal. Der Wissenschaftler glaubt, dass die Regierung die Zeichen der Zeit erkannt hat und die Kooperation mit der jüdischen Gemeinde in Russland sucht. Denn der Brain-Drain dauert an. Nach wie vor verlassen jedes Jahr zwischen zwei- und dreitausend in der Regel gut ausgebildete und nicht selten vermögende Juden das Land.
Tantlewski jedenfalls will die Chance nutzen, die sich jetzt auftut. Er hofft, dass die Judaistik in Russland eine Renaissance erlebt. Eine wichtige Rolle räumt er dabei dem wissenschaftlichen Austausch mit dem Ausland ein. In den vergangenen zehn Jahren entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Zentrum für Bibel- und Jüdische Studien an der SPBGU und dem Chais Center for Jewish Studies in Russian an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Die israelische Hochschule organisierte für führende Wissenschaftler aus der ganzen Welt jährlich bis zu zehn Gastaufenthalte an der St. Petersburger Staatlichen Universität. Gefördert wurden die Lehr- und Forschungsbesuche von den internationalen Stiftungen Awi Chai, Genesis Philantrophy Group und Dutch Jewish Humanitarian Fund. Und in Zukunft soll auch der neue Lehrstuhl von dieser Zusammenarbeit profitieren.
Zusammenarbeit Aminadav Dykman von der Hebräischen Universität ist im Herbst 2010 Gastdozent. Der Spezialist für hebräische Dichtung hält nicht zum ersten Mal eine Vorlesungs- und Seminarreihe in St. Petersburg ab. Er ist beeindruckt vom hohen Niveau der Petersburger Studenten. »Ich habe an vielen Orten Veranstaltungen durchgeführt. Aber längst nicht überall sind die Studenten in der Lage, poetische Texte auf Hebräisch zu interpretieren.«
Die Einrichtung des Lehrstuhls und die Arbeit Tantlewskis hält Dykman für sehr wichtig. »Einerseits ist Hebräisch eine kleine Sprache – es gibt nur einige Millionen Sprecher. Andererseits ist das eine Sprache, die eine enorme Bedeutung für die gesamte europäische Kultur hat«, so Dykman. Es sei sehr positiv, dass sich heute in Russland junge Menschen für Hebräisch und jüdische Kultur interessierten.