»Die Welt, die wir gekannt und geliebt haben, mit allen ihren gütigen, geistig und seelisch hochstehenden Menschen, ist versunken«, schrieb Fritz Lieben im November 1953 nach seiner Rückkehr aus der Emigration in das wiedergefundene Gästebuch seiner Mutter Mathilde, einer geborenen Freiin Schey von Koromla. Die Liebens und die Scheys sind nur zwei der mehr als 500 Wiener jüdischen Familien aus der Zeit von 1800 bis 1938, deren Geschichte Georg Gaugusch seit über zwölf Jahren nachspürt und an die oft nur noch die prächtigen Fassaden ihrer Ringstraßenpalais erinnern.
»Es geht nicht um das Umfeld großer Genies, sondern um die Rekonstruktion einer bestimmten Gesellschaftsschicht«, sagt der promovierte Chemiker, der das Familienunternehmen W. Jungmann & Neffe führt, heute ein Herrenausstatter, früher k.u.k. Stofflieferant. Anstoß für seine Arbeit gaben die alten Auftragsbücher des Traditionsgeschäfts, dessen Kundenkreis einst die sogenannte zweite Gesellschaft Wiens ausmachte. Gaugusch hat um die 37.000 Namen zusammengetragen; vor einem Jahr erschien der erste Band seines auf zwei Bände angelegten Handbuchs Wer einmal war.
Erfolgsgeschichte »Die Geschichte der Juden in Österreich konzentriert sich oft nur auf den Holocaust«, sagt der Enddreißiger. »Die Erfolgsgeschichte davor wird nur am Rande behandelt. Die Nazis haben es geschafft, all die Leistungen der Juden bei der Industrialisierung Mitteleuropas in ein so negatives Licht zu rücken, dass es auch der manchmal sehr linken deutschsprachigen wirtschaftshistorischen Forschung nicht mehr gelang, das zurechtzurücken. Vielleicht war es aber auch gar nicht gewollt.«
Beschrieben wird ein geschlossenes Milieu von Familien, für die der soziale Aufstieg manches Mal mit der Konversion einherging. Man pflegte enge persönliche und geschäftliche Kontakte, heiratete untereinander und grenzte sich trotz eigener Nobilitierung von der alten Aristokratie und deren Ressentiments ab. »Manche der jüngeren und jüngsten Sprosse unterscheiden sich von den Abkömmlingen altadeliger Geschlechter höchstens durch ein Mehr an Witz«, befand Arthur Schnitzler. Dass gesellschaftlicher Erfolg nicht immer der Taufe bedurfte, beweist dessen eigene Familiengeschichte: Urenkelin Giuliana Schnitzler ist heute Vizepräsidentin der Jüdischen Liberalen Kultusgemeinde von Wien.
Gaugusch hat Hebräisch gelernt, um Grabsteine entziffern zu können, Familienanzeigen und Gemeindematrikel studiert und mit seiner Frau, der Historikerin Marie-Theres Arnbom, Recherchereisen in die entlegensten Gegenden der ehemaligen Monarchie unternommen. Die beiden sind eben erst aus dem böhmischen Jindrichuv Hradec zurück: »Wir waren auf der Suche nach der Familie Bobelle, deren Bedeutung ich mangels Quellen nicht einschätzen konnte. Ich wusste, dass sie in Südböhmen sehr früh eine der wichtigsten Tuchfabriken gründeten.
Nach den Grabsteinen zu schließen, hat die Familie zur frühindustriellen Zeit überregionale Bedeutung besessen, die Nichte oder Schwester des Fabrikgründers Ignaz Bobelle heiratete in die wichtigste ungarische Finanzfamilie, die Wodianers, ein. Bobelle selbst war mit der Nichte des wichtigsten österreichischen Bankiers während der napoleonischen Kriege, Simon von Lämel, verheiratet. Die Familie Lämel spielte später in Paris und Wien eine überragende Rolle. Der Bogen spannt sich also zwischen Wien, Budapest, Prag, Paris und Übersee.«
Begeisterung Diese vielen Details machen das Handbuch zum Lesebuch, und das reichhaltige Material regt zu neuen sozialwissenschaftlichen Fragestellungen an, wenn es etwa Krankheitsbilder, Bildungswege und neue Berufsfelder (»Fotografin«) benennt. Viele Einträge sind voller Dramatik, etwa die Pleiten nach dem Börsenkrach von 1873. Die Resonanz auf das Projekt ist immens: »Es gibt keine Wiener Familie, die nicht irgendwie mit dem Judentum in Berührung gekommen ist«, sagt Gaugusch.
Jeden Tag kommen ein, zwei begeisterte Nachkommen in sein Geschäft. Unter diesen finden sich Persönlichkeiten wie der Intendant der Salzburger Festspiele, Freiherr Alexander von Pereira-Arnstein, oder die Betreiberin der legendären Loos-Bar am Stephansdom, Marianne Kohn, deren Vorfahren die Möbelfirma Jakob & Josef Kohn führten, für die auch der Architekt Adolf Loos arbeitete.
In ersten Band kommt auch Gräfin Vera Teleki (1910–2011) zur Sprache, die ihre Firma im Herbst 1941 an den Urgroßvater des Autors verkaufte und diesen als über 80-jährige Dame auf Besuch aus Kanada mit alten Geschichten aus dem Geschäftsleben gefangen nahm. Ihre Mutter war eine polnische Gräfin, ihr Vater, der Zoologe Hans Leo Przibram, starb wie so viele der von Gaugusch Porträtierten im KZ.
Dieses Forschungsprojekt gibt Tausenden ihren Namen zurück. 2013 soll der zweite Band erscheinen. Das monumentale Werk von Georg Gaugusch ist nicht nur ein spannender Beitrag zum Typus jüdischer Existenz in der Moderne und ein unverzichtbares Nachschlagewerk, sondern vor allem ein Denkmal jüdischen Lebens in Mitteleuropa vor der Schoa.
Georg Gaugusch: »Wer einmal war. Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800–1938. A-K«, Amalthea, Wien 2011, 1696 S., 128 €