Rezension

Realität der Verhältnisse

Der Historiker Nicholas Stargardt hat erforscht, wie die Mehrheit der Deutschen Weltkrieg und Völkermord wahrnahm

von Wolf Scheller  20.06.2016 18:38 Uhr

Buchcover von »Der deutsche Krieg« Foto: S. Fischer

Der Historiker Nicholas Stargardt hat erforscht, wie die Mehrheit der Deutschen Weltkrieg und Völkermord wahrnahm

von Wolf Scheller  20.06.2016 18:38 Uhr

Es ist für Nachgeborene schier unbegreiflich, dass die übergroße Mehrheit der Deutschen die fünfeinhalb Jahre des Weltkriegs bis zum Untergang durchlebt hat, ohne sich aufzulehnen. Aber die Deutschen verfuhren genau so. Doch was in ihnen vorging, wie ihr Leben von Zweifeln, Hoffnungen und Ängsten bestimmt wurde, darüber wissen wir nicht viel.

Das kollektive Gedächtnis, wie es Walter Kempowski in den Bänden seines berühmten Werks Das Echolot anhand von ungezählten »Erinnerungskristallen« von Menschen aus dieser Zeit zusammengesetzt hat, folgte der Überlegung, dass die eigene Erinnerung als das Allerprivateste aufs Engste mit dem Allgemeinsten korrespondiert.

Der aus Australien stammende, in Oxford lehrende Historiker Nicholas Stargardt ist ein ausgewiesener Kenner der deutschen Geschichte. Auch ihn hat die Frage beschäftigt: Wie haben die Deutschen diesen Krieg, der von ihrem Regime angezettelt wurde, erlebt, und warum sind sie den Befehlen Hitlers bis zum Schluss und teilweise noch darüber hinaus gefolgt?

Autobiografien Anders als der Dichter Walter Kempowski hat Stargardt autobiografisches Material wie Briefe und Tagebücher nur weniger Personen benutzt, um einen möglichst anschaulichen Eindruck von der Atmosphäre und den Lebensumständen der Kriegsjahre zu gewinnen. Dass es sich hierbei nicht um den Versuch einer repräsentativen Untersuchung handeln kann, liegt auf der Hand.

Und doch gelingt es Stargardt, indem er Vertreter verschiedenster Herkunft und Berufe zu Wort kommen lässt, die Realität der Verhältnisse zu spiegeln. Ins Bild rückt er dabei Offiziere, Bauernsöhne, Akademiker, einfache Soldaten, Katholiken und Protestanten, auch ein paar Prominente, wie Victor Klemperer oder die Berliner Journalistin Ursula von Kardorff, die in den Kriegsjahren den einen oder anderen Juden materiell unterstützte, ihrem Tagebuch aber anvertraute, dass diese Menschen auch einen »gewissen Zuspruch« nötig hätten.

Stargardt bemerkt dazu: »Gelegentliche Hilfe war eine Sache, zu mehr war Kardorff jedoch nicht bereit (...). So sehr sie vielleicht Juden helfen wollte zu überleben, sie wünschte sich keineswegs, dass Deutschland den Krieg verlor.« Mit dieser Haltung stand sie nicht allein. Immerhin weist Stargardt darauf hin, dass »während des Krieges in Deutschland zahlreiche Informationen über den Völkermord kursierten«. Während die deutschen Juden den Krieg unter dem Eindruck des »fortschreitenden Holocaust« (Stargardt) wahrnahmen, beschäftigte die meisten Deutschen das sie unmittelbar betreffende Kriegsgeschehen, die Kämpfe an den verschiedenen Fronten, die immer massiver werdenden Bombardierungen der Städte.

Wehrmacht Erschüttert zeigten sich etliche Wehrmachtsangehörige nach dem Polen-Feldzug über das Vorgehen der SS-Einsatzgruppen gegen die Juden und die polnische Intelligenz. Es herrschte, zeigt Stargardt, anders als 1914 keine Begeisterung in der deutschen Bevölkerung, als die Wehrmacht in Polen einfiel, und es gab weder patriotische Aufmärsche noch sonstige Massenkundgebungen. Die beiden großen Kirchen reagierten unterschiedlich auf den Beginn des Weltkriegs.

Die evangelische Kirche vereinigte sich »auch in dieser Stunde mit unserem Volk in der Fürbitte für Führer und Reich«. Die katholischen Bischöfe hingegen interpretierten »diesen Waffengang als Strafe für den weltlichen Materialismus der modernen Gesellschaft«, so Stargardt.

Die Lektüre dieses gut recherchierten und spannend geschriebenen Buchs hinterlässt freilich auch einen bitteren Nachgeschmack. Etlichen Selbstbekundungen der Protagonisten kann man entnehmen, wie starr sich am Ende eine persönliche Verteidigungshaltung gegenüber den von Deutschen verübten Verbrechen in diesem Krieg behauptete. Schuld waren vielfach die anderen: die Bolschewisten, die Partisanen – und die Juden sowieso. Das eigene Handeln wurde als gerechtfertigt beglaubigt, und es war oft dieses Verhaftetsein in der Katastrophe, das den Umgang der Generationen nach dem Krieg belastete.

Nicholas Stargardt: »Der deutsche Krieg 1939 bis 1945«. S. Fischer, Frankfurt 2015, 848 S., 26,99 €

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025