Interview

»Eine schlechte Religion«

August Rohling (1839-1931) Foto: Bistumsarchiv Münster

Herr Schnocks, Herr Daufratshofer, vor 150 Jahren erschien die antisemitische Hetzschrift Der Talmudjude von August Rohling, der auch Professor an der Königlichen Akademie in Münster war. Das war ja kein Geheimnis, warum geht die Katholisch-Theologische Fakultät erst jetzt mit diesem Thema an die Öffentlichkeit?
Johannes Schnocks: Zum einen sind 150 Jahre eine runde Zahl, zum anderen sind wir im Themenjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« besonders sensibilisiert. Da ist es wichtig, die verschiedenen Quellen des Antisemitismus und Antijudaismus genau zu beleuchten und zu schauen, wie wir mit den Dingen umgehen, die in die Verantwortlichkeit und Kompetenz einer katholisch-theologischen Fakultät fallen. Uns geht es darum, wie wir es schaffen können, dass wir ein gutes Miteinander mit den hier lebenden Juden erreichen. Viele von uns in der Fakultät sind da sehr engagiert. Ich selbst bin der katholische Vorsitzende der hiesigen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, und wir wollen unseren Teil dazu beitragen.

Matthias Daufratshofer: In den letzten Wochen haben sechs Mitglieder der Fakultät eine Initiativgruppe gebildet. Wir alle waren zutiefst erschrocken über dieses antisemitische Pamphlet. Als ich mich persönlich eingelesen habe, habe ich gedacht, das kann doch nicht sein, dass ein katholischer Professor an unserer Fakultät so etwas geschrieben hat. Für mich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für die Geschichte des Bistums Münster gibt es sowohl aus Sicht der Bistumsgeschichte als auch fakultätsgeschichtlich viele Fragen, die noch offen sind.

Wer war August Rohling?
Daufratshofer: August Rohling stammt aus Neuenkirchen bei Rheine, also aus dem tiefsten katholischen Münsterland. Er hat nicht nur die klassische Priesterlaufbahn, sondern gleichzeitig eine universitäre Laufbahn eingeschlagen. Das Jahr 1871 sollte ein Wendepunkt sein. Am 1. August erhielt er die Ehrendoktorwürde der damaligen Theologisch-Philosophischen Königlichen Akademie Münster und wurde außerordentlicher Professor für Exegese. Bereits im Juni, zwei Monate zuvor, hatte er Der Talmudjude veröffentlicht. Hier wollen wir mit unseren Fragen ansetzen: Wie hat es überhaupt dazu kommen können, dass der Verfasser einer solch antisemitischen Hetzschrift auf diesen Posten berufen werden konnte? Wie stand die damalige Fakultät damals zu ihm und zum Talmudjuden? Aufschlussreich dürften hier die Akten seines Berufungsverfahrens sein, die bis heute in den Archiven schlummern: Wie agierte die Fakultät, die eine Vorschlagsliste und ein Gutachten erstellen musste? Wie verhielt sich das westfälische Oberpräsidium und das preußische Kultusministerium, das die Berufung letztlich verantwortete? Ist Rohling ein Einzelfall oder traf er mit seinen Ansichten er im Zuge des Kulturkampfes zwischen dem Kaiserreich und der katholischen Kirche einen Nerv der Zeit?  Bereits nach vier Jahren verlässt Rohling wieder die Münsteraner Fakultät. Die Hintergründe dafür sind ebenfalls noch im Dunkeln. Er geht dann in die USA und wird schließlich nach Prag berufen. Dann kommt ein Punkt, der aus kirchlicher Perspektive interessant ist: Eines seiner Werke kommt auf den römischen »Index der verbotenen Bücher«. Die Indexkongregation verurteilt aber nicht – wie zu vermuten wäre – das antisemitische Pamphlet Der Talmudjude, sondern das Büchlein Der Zukunftsstaat, das mit der katholischen Lehre überhaupt nicht übereinstimmt und schließlich dazu führt, dass er seinen Lehrstuhl in Prag verliert.

Die Indizierung erfolgte also nicht wegen seines Judenhasses?
Daufratshofer: Ganz offenbar nicht. Meine Kolleginnen und Kollegen haben schon Recherchen im Archiv der Glaubenskongregation durchgeführt, da liegt die Akte zu Rohlings Zukunftsstaat und zwei weiteren seiner Werke, die jedoch nicht indiziert wurden. Aber die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Indizierungsfälle ist noch nicht geschehen. Uns interessiert: Wird da irgendwo auf den Talmudjuden Bezug genommen oder eben nicht? Und was heißt das wiederum für die Römische Kurie?

Was ist der Talmudjude für ein Buch, und was hat Rohling damit bezweckt?
Schnocks: Am Anfang des Talmudjuden schreibt Rohling etwas zu seinen Motiven. Er profiliert den Katholizismus gegenüber dem Judentum und sagt dann im Grunde, warum das Judentum nicht nur ein schlechter Glaube, sondern auch moralisch schlecht sei. Das tut er, indem er ganz stereotyp immer schreibt: »Der Talmud sagt …« Er stellt sich selbst als Talmud-Fachmann dar. In seinem Psalmenkommentar, den er im selben Jahr herausgegeben hat, zeigt sich jedoch, dass er überhaupt nicht den hebräischen Text zugrunde legt, sondern nur die lateinische Vulgata-Übersetzung. Er konnte also auch den Talmud gar nicht lesen, sondern ist in Form eines Plagiates vorgegangen, indem er sich auf den Hebraisten Johann Andreas Eisenmenger bezogen hat, der 170 Jahre früher ein Buch von über 2000 Seiten publiziert hat, Entdecktes Judenthum, auch eine antisemitische Hetzschrift, in der Eisenmenger Passagen aus dem Talmud herausreißt und sinnentstellend zitiert.

Fügt Rohling irgendetwas Neues hinzu?
Schnocks: Rohling bedient im Grunde alle antisemitischen Vorurteile seiner Zeit, er unterstellt dem Judentum Unaufrichtigkeit gegenüber dem Christentum, also dass Christen jederzeit betrogen werden können, er vertritt die These der angestrebten jüdischen Weltherrschaft, er unterstellt Juden, dass sie vom Talmud darin bestärkt werden, christliche Frauen zu missbrauchen und Christen zu töten und zu berauben. Das Ganze gipfelt am Ende in der Forderung, dass die Emanzipation der Juden zurückgenommen werden müsse. Das ist sein politisches Ziel. Das sind Fake News in ihrer allerschlimmsten Ausprägung, und das ist auch in der Zeit sofort erkannt worden. Theodor Kroner, Rabbiner und Leiter der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster, dem Ausbildungszentrum für jüdische Lehrer, hat noch im selben Jahr dezidiert jeden einzelnen Punkt in diesem Werk sehr sauber und genau widerlegt. Und zehn Jahre später hat das dann noch ausführlicher Franz Delitzsch gemacht, ein evangelischer Alttestamentler. Der war Judenmissionar, was für uns heute problematisch ist, aber er war eben einer der besten christlichen Kenner des Judentums seiner Zeit. Auch er hat das ganz sauber widerlegt.

Hat das etwas genützt?
Schnocks: Nein, diese Widerlegungen haben der Rezeption des Talmudjuden überhaupt nicht geschadet. Das Buch hatte eine enorme Verbreitung und ist bis in die Zeit des Nationalsozialismus immer wieder nachgedruckt worden. Es ist außerdem ausgesprochen leicht zu lesen, man hat sich das in Kneipen gegenseitig vorgelesen. Wenn sie heute bei Amazon nachschauen, dann können sie es da immer noch bestellen. Es gibt auch eine amerikanische Rezension dazu, die das Buch ausgesprochen empfiehlt.

Entsprach Rohling damals dem Mainstream der katholischen Kirche, oder ging sein Buch über den traditionellen christlichen Antijudaismus hinaus?
Schnocks: Das war alles nicht neu. Von theologischem Interesse ist, wie er seine Sicht des Katholizismus mit seinem Judenhass kombiniert. Ich glaube nicht, dass er besonders kreativ war, ihm gelingt es aber, den religiös motivierten Antijudaismus und den rassisch und politisch motivierten Antisemitismus in eine Melange zu bringen. Es kann sein, dass das erstmalig so kompakt gemacht wurde.

Daufratshofer: Rohling hat im Grunde zum ersten Mal den biologischen Rassenantisemitismus in der katholischen Kirche überhaupt hoffähig gemacht. Das Buch ist bis 1933 in 22 Auflagen und in zahlreichen Übersetzungen erschienen. Sogar der katholische Paderborner Bonifatius-Verein ließ 38.000 Exemplare kostenlos verteilen. Das heißt, das Pamphlet wurde sogar über ein offiziöses Organ der katholischen Kirche verbreitet. Gerade auch in katholischen Kreisen, bis nach Österreich, fand der Talmudjude eine überaus positive Rezeption. Erst als der Kulturkampfschock etwas nachließ, kamen kritischere Stimmen auf. Das NS-Hetzblatt »Der Stürmer« hat Argumentationen von Rohling dann wieder übernommen. Das NS-Stereotyp des Talmudjuden geht letztlich auf Rohling zurück.

Gab es denn auch Kritik aus katholischen Kreisen?
Daufratshofer: Das ist auch einer der Punkte, den wir noch klären müssen: Wie war die Rezeption in katholischen akademischen Kreisen? Es gibt natürlich das grundsätzliche Problem des katholischen Antijudaismus – nur der rassistische Antisemitismus wurde erstmals 1928 lehramtlich verurteilt, wie Hubert Wolf gezeigt hat. Die Karwoche ist ja immer auch mit einem sehr bitteren Beigeschmack verbunden, nämlich mit der alten Karfreitagsfürbitte, in der für die »treulosen Juden« (pro perfidis judaeis) gebetet wurde. 1928 hat sich in Rom eine Priestervereinigung gegründet, die Amici Israel, die sehr judenfreundlich waren und sagten: Das können wir doch in unserer Liturgie nicht beten, und den Papst baten, diese streichen zu lassen. Überaus antimodernistische Kreise in der Römischen Kurie wussten dies aber zu verhindern. Daher wurde bis Ende der 50er-Jahre diese zutiefst antisemitische Passage gebetet. Das zeigt aber auch, dass die katholische Kirche kein monolithischer Block war, sondern es verschiedene Parteiungen gab, von dezidierten Antisemiten über klassische Antijudaisten bis hin zu ausgesprochenen Judenfreunden. Es ist unsere Aufgabe, zu erforschen, wie in den unterschiedlichen Kreisen auf den Talmudjuden reagiert wurde und ob es möglicherweise an der Römischen Kurie Diskussion darüber gab.

Schnocks: Aber noch 1930 gab es in der ersten Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche einen Artikel zum Antisemitismus. Darin heißt es, dass es zwei Arten von Antisemitismus gibt: den falschen, rassistischen, und den »richtigen«. Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil gibt es die Vorstellung, dass man katholisch und antijüdisch sein kann.

Der religiöse Antijudaismus sieht Juden nicht als fremde Rasse, sondern als zu bekehrende Irrgläubige?
Schnocks: Im Grunde ist es schlimmer, er sieht das Judentum als eine schlechte Form von Religion. Es gab auch den Versuch, die hebräische Bibel vom Judentum abzukoppeln. Die Bibel gehört dann ganz den Christen, und das Judentum ist etwas, das sich danach in einer schlechten Version eigentlich nur im Talmud wiederfindet. Da wird jegliche Form der Gemeinsamkeit im Grunde geleugnet.

Gab es nach 1945 schon einmal eine Auseinandersetzung mit dem Talmudjuden, sei es in Münster oder generell in der akademischen Welt?
Daufratshofer: Es wurde der eine oder andere Aufsatz dazu publiziert, zum Beispiel von Regina Grundmann, der Münsteraner Professorin für jüdische Studien, die das Werk eingeordnet hat, oder von dem Münsteraner Historiker Olaf Blaschke, der darauf in seinem Standardwerk zum Antisemitismus eingeht. Es ist also nicht so, dass das Werk ein komplett unbeschriebenes Blatt in der Wissenschaft ist. Aber soweit ich weiß, hat sich unsere Fakultät noch nie intensiv wissenschaftlich damit auseinandergesetzt. Im letzten Semester war Rohlings Schrift aber Gegenstand in einem Hauptseminar von Ludger Hiepel und Astrid Reuter. Das war einer der Anlässe für uns, zu fragen: Wie kann es sein, dass der unrühmlichste Bestseller unserer Fakultät noch nie wissenschaftlich aufgearbeitet wurde?

In welcher Form wollen Sie das tun?
Schnocks: Wir planen eine Abendveranstaltung mit Podiumsdiskussion im November, die sich an ein größeres Publikum wendet, und tragen das Thema jetzt gerade in die Fakultät hinein. Wir wollen das zu einem interdisziplinären Thema in unserer Fakultät machen. Es sind auch Publikationen geplant. Unser Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte ist mit der Indexforschung und der Arbeit in den römischen Archiven sehr stark an diesen Fragen dran.

Daufratshofer: Der interdisziplinäre Ansatz macht es aus. Ich als Kirchenhistoriker kann etwas zum »Index der verbotenen Bücher«, zum Jahr 1871 oder zum katholischen Antisemitismus sagen, aber wenn es darum geht, wie lege ich eigentlich den Talmud aus, da merke ich, dass sogar ich als Theologe an meine Grenzen komme. Auch zur Person August Rohlings gibt es noch viele weiße Flecken auf der Landkarte, wobei wir keine Biografie schreiben wollen, vielmehr soll Rohling ein Fenster sein, das uns Blicke auf den katholischen Antisemitismus seiner Zeit ermöglicht. Das Thema soll auch in Lehrveranstaltungen aufgegriffen werden, und wir wollen es zudem in die breite Öffentlichkeit bringen, etwa mit unserem »TheoPodcast« aus der Fakultät oder dem »WWU-Cast« der Uni Münster. Und wir müssen weitere Forschungen durchführen, die Archive konsultieren, wie etwa das Bistumsarchiv, das Universitätsarchiv in Münster, wir müssen noch einmal nach Rom ins Archiv der Glaubenskongregation und nachsehen, was da für Akten liegen, sodass wir die Puzzlestücke am Schluss zusammensetzen können.

In welchem Zeitrahmen bewegen Sie sich dabei?
Daufratshofer: Wenn Corona nicht wäre, wären wir schon längst in Rom gewesen und hätten die Akten einsehen können. Optimistisch geplant, können wir erst im Sommer wieder hinfahren. Das Thema wird uns sicher die nächsten zwei oder drei Jahre beschäftigen. Wir wissen auch noch gar nicht, wohin die Reise geht und was am Schluss dabei herauskommt. Derzeit ist es work in progress.

Johannes Schnocks ist Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälische Wilhelms-Universität Münster.

Matthias Daufratshofer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der WWU Münster.

Das Interview führte Ingo Way.

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