Biografie

Rasende Atome und fallende Judokas

Moshé Feldenkrais übt in den 30er-Jahren in Tel Aviv. Foto: IFF

Am Morgen des 15. Januar 1934 traf sich im Labor des Radium-Instituts in der Pariser Rue Pierre Curie eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern, um ein Experiment zu beobachten, dessen Konsequenzen den Lauf der Weltgeschichte verändern sollten: Irène und Frédéric Joliot-Curie demonstrierten Marie Curie, Paul Langevin und ihrem Mitarbeiter Pierre Biquard die von ihnen entwickelte künstliche Erzeugung von Radioaktivität. Wenige Tage später ging das Ehepaar Joliot-Curie mit seiner Entdeckung an die Öffentlichkeit und wurde so mit einem Schlag weltberühmt. (...)

Doch nun waren im mächtigen Nachbarland die Nationalsozialisten an die Macht gekommen, und damit erhielt jeder Fortschritt in der Kernforschung ein Janusgesicht: Alle in den demokratischen Staaten gewonnenen Erkenntnisse über die Atomenergie würden nach ihrer Veröffentlichung auch den Nazis zugutekommen. Und man musste davon ausgehen, dass die Deutschen ein Interesse daran haben würden, sich das destruktive Potenzial der Atome eines Tages nutzbar zu machen. (...)

Unter dem Eindruck der Bedrohung aus dem Nachbarland setzte das Ehepaar Joliot-Curie seine Forschungen engagierter denn je fort. Denn wenn die Entdeckung der Kernschmelze und die Erzeugung einer zerstörerischen Kettenreaktion nicht mehr aufzuhalten war, dann musste man den Nazis auf jeden Fall zuvorkommen. Das eigentlich auf friedliche akademische Forschung konzentrierte Radium-Institut wurde nun zum Zentrum des Taifuns.

Forschung Im Sommer 1933 wurde der Promotionsstudent Moshé Feldenkrais auf Empfehlung von Leon Eyrolles in das Team von Frédéric Joliot eingeladen. 1935 beteiligte sich Moshé in den Werkhallen seiner früheren Schule am Bau des ersten französischen Teilchenbeschleunigers, eines sogenannten Van-de-Graaff-Generators. Die von dem Generator hergestellten Radionuklide waren für die Verwendung in der biologischen und medizinischen Forschung bestimmt. Moshé fertigte die Entwürfe für den Bau des Generators in so kurzer Zeit an, dass Joliot tief beeindruckt war.

Er war gern bereit, Moshés Promotionsvorhaben zur »Messung sehr hoher Spannung« zu betreuen, und half dem jungen Mann, zwei Stipendien der Carnegie-Stiftung zu erhalten. Zusammen mit dem Nobelpreisträger Joliot konnte Moshé sogar zwei wissenschaftliche Texte publizieren – für den Promotionsstudenten eine große Ehre. Kamen Besucher ins Institut, war es oft der mehrsprachige Moshé, der sie herumführte. So begegnete er auch Enrico Fermi und Albert Einstein, den die breiten Schultern des Studenten Feldenkrais nicht weniger als der Anblick des Van-de-Graaff-Generators beeindruckten.

palästina Im Juli 1934 ging Moshé mit seinem palästinensischen Pass zur deutschen Botschaft und ließ sich dort ein Visum für die Reise durch Deutschland ausstellen, um so zu seiner Familie in Polen zu gelangen. Nun, da die Nazis in Deutschland herrschten, hielt Moshé es mehr denn je für ratsam, dass seine Eltern, (und die Geschwister) Malka und Baruch nach Palästina auswandern sollten. Wahrscheinlich ahnte er auch, dass es angesichts der vielen deutschen Juden, die nun nach Palästina flohen, nur eine Frage der Zeit sein würde, bis der nächste arabische Aufstand losbrach. Und der Reflex der Briten war für diesen Fall hinlänglich bekannt: Einreisebeschränkungen für Juden.

Moshé hatte zwar genug Geld gespart, damit seine Eltern und Malka nach Palästina einreisen durften, doch reichte das Geld nicht für die Alija des Bruders Baruch. Für dessen Einwanderung bürgte daher Mrs. Vera Solomons, eine wohlhabende Engländerin, die Moshé in Paris kennengelernt hatte. Auch Malka, die eine Ausbildung zur pharmazeutischen Assistentin machte, sprach fließend Hebräisch, entschied sich jedoch, nach Frankreich anstatt nach Palästina zu gehen. Zwar kannte sie ihren Bruder kaum, da sie sich 15 Jahre nicht gesehen hatten, doch war das Verhältnis der Geschwister zueinander unverändert liebevoll. (...). Und es war klar, dass sich Moshé um seine kleine Schwester kümmern würde. Die Eltern und Baruch verließen Baranowicze, nachdem die Einreiseerlaubnis durch die britische Mandatsregierung Ende 1935 erfolgt war.

Moshé und Yona wohnten nun in der Avenue de la Soeur-Rosalie 12. Moshé war täglich 14 Stunden beschäftigt: Tagsüber arbeitete er für Joliot-Curie, abends gab er in seinem »Jiu-Jitsu Club de France« in der Rue Thénard Nr. 1 Unterricht. (...) Moshé gelang es sogar, das Ehepaar Joliot-Curie und weitere Mitarbeiter des Radium-Instituts als Schüler zu gewinnen.

Psychologie Der große Erfolg bei seinen Schülern rührte nicht daher, dass Feldenkrais ein so erfahrener und einzigartiger Judoka gewesen wäre. Das Besondere war vielmehr, dass er den »sanften Weg« aus einer streng wissenschaftlichen, westlichen Perspektive vermittelte. Dabei setzte Moshé nicht nur sein pädagogisches Talent, sondern auch seine Kenntnisse der Mechanik und sein psychologisches Wissen ein. Selbst sein Lehrer Kawaishi ließ sich von der eigenwilligen Herangehensweise Moshés beeindrucken und hielt es auch nicht für nötig, die Artikel, die Feldenkrais für das »Judo Bulletin« schrieb, vorsorglich gegenzulesen.

Dabei blieb natürlich immer klar, wer Lehrer und wer Schüler war. Und die Fähigkeiten Kawaishis verschlugen Moshé schon beim bloßen Zuschauen den Atem: »Mein Lehrer pflegte sich auf den Boden zu legen, ohne dabei seine Kehle zu schützen, und ein Stock wurde quer über seine Kehle gelegt, den zwei Leute dann auf seine Kehle drückten. Jeder andere wäre in einer Sekunde tot gewesen. Er aber lag da, und ehe man sich versah, war er unter dem Stock weggeschlüpft und hatte sich befreit. Er konnte das auch zehnmal hintereinander machen, und man konnte ihn daran nicht hindern.«

Schon bei seiner ersten Begegnung mit (dem Vater des Judo) Jigoro Kano hatte Moshé am eigenen Leibe erfahren, dass nicht bloße Muskelkraft, sondern das »Wie«, die vollkommene Beherrschung der Technik, entscheidend ist. Vor allem erlebte Moshé, dass ein Mensch, der sich unter der Anleitung eines Lehrers darauf einlässt zu lernen, das Spektrum seiner Möglichkeiten nahezu grenzenlos zu erweitern vermag. Und je mehr Möglichkeiten der Mensch hat, so lernte Moshé, desto freier, selbstsicherer und unabhängiger ist er.

gravitation Selbst die Gravitation schien Judokas weniger einzuschränken als andere Menschen, sie konnten sich leichter, mit weniger Anstrengung bewegen. Und noch etwas Überlebenswichtiges lernte Moshé während seiner Ausbildung: Er schulte seine Aufmerksamkeit im stummen Dialog zwischen seinem eigenen Körper und dem des Gegners. Er lernte, über Berührung zu verstehen, Absichten zu erahnen und sofort zu handeln. Moshé hatte das Versprechen gehalten, das er sich in Baranowicze gegeben hatte: Er konnte sich seiner Haut wehren!

Moshés zunehmende Begeisterung für die Entdeckung neuer Bewegungsabläufe und mentaler Fähigkeiten änderte allerdings nichts daran, dass ihm Kawaishi als Mensch etwas suspekt blieb. Nicht nur, dass der Japaner sein Geld bei Kartenspiel und Pferderennen verschwendete, er kam mitunter auch betrunken zum Unterricht. (...) Was ihn auch immer an Kawaishis Persönlichkeit stören mochte, so schaffte dieser es doch, seinen Schüler auf die Prüfung zur Erlangung des schwarzen Gurts vorzubereiten. Für Moshé persönlich war der Tag der Prüfung eine weltbewegende Angelegenheit. Er hatte sogar eine Reihe von Gästen zu diesem Ereignis eingeladen: darunter natürlich das Ehepaar Joliot-Curie und Leon Eyrolles, aber auch den Erziehungsminister Jean Zay sowie Pierre Mendès-France (Zay sollte 1944 von Vichy-Milizionären ermordet und Mendès-France 1954 Ministerpräsident werden). Nach der Zeremonie lud Moshé seine Gäste in ein Restaurant ein. In der darauffolgenden Nacht tat er kein Auge zu. Erst am nächsten Tag, als er mit dem Bus zur Arbeit führ, schlief er ein – im Stehen.

Moshés Hochgefühl steigerte sich noch, als er bemerkte, dass er als Träger des schwarzen Gurts wirklich besser wurde. Schon die Judo-Würfe schienen leichter zu gehen. Nach seiner Überzeugung war dies ein psychologisches Phänomen: Allein die Tatsache, dass er sich als Gewinner fühlte, steigerte seine Leistung. »Ich war jetzt jemand. Halleluja! Der Club wurde immer größer, und ich war ein stolzer Hahn. Ich versuchte mir einzubilden, dass das alles wirklich wichtig ist. Aber man kann nun wirklich mehr erreichen. Und das gilt auch für die Welt des Judo. Ich habe mich dann ziemlich schnell wieder beruhigt – was von allen dankbar registriert wurde.«

Hochzeit Außer der Verleihung des schwarzen Gurts gab es in jenen Tagen noch einen Grund zum Feiern: Moshé heiratete seine Freundin Yona, selbstverständlich nach dem jüdischen Ritus. Die standesamtliche Trauung konnte warten. Seine Familie in Tel Aviv hatte er per Telegramm sehr kurzfristig über die anstehende Trauung informiert: »Heiraten am Freitag. Sagt Rubinsteins Bescheid.«

Moshé und Kawaishi gaben spezielle Selbstverteidigungskurse für Frauen, und auch Malka wurde bald eine begeisterte Judoka. Außerdem richteten Kawaishi und sein Schüler Judo-Klassen für Kinder ein. All das genügte Feldenkrais allerdings nicht: Ihn interessierte mehr und mehr, ob er sein im Judo-Unterricht gewonnenes Wissen nicht auch außerhalb des Clubs einsetzen könnte. So kam Moshé auf Empfehlung Joliots in Kontakt mit Professor Paul Chailley-Bert, der in seinem Institut in der Rue Lacretelle versuchte, körperlich schwache Kinder durch Sport zu fördern.

Als wäre die Doppelbelastung durch seine Arbeit im Labor und die Arbeit im Studio nicht schon genug, betätigte Moshé sich auch noch als Entwickler technischer Patente. Einer von Moshés Schülern leitete eine Firma, die medizinische Geräte baute. Als er seinen Lehrer eines Tages fragte, ob es nicht möglich sei, ein Gerät zur Sterilisierung von Operationsräumen zu erfinden, war Moshés natürliche Neugierde sofort geweckt. Und tatsächlich schaffte er es, ein Gerät zu erfinden, das die Luft in OPs sterilisierte. Moshés Hoffnungen in dieses Patent waren groß: Wenn alle französischen Krankenhäuser das Gerät kaufen würden, wäre er auch in finanzieller Hinsicht ein gemachter Mann!

Und tatsächlich wurde Moshés revolutionäre Erfindung von einem neuen Krankenhaus in Lille eingekauft. Wäre nicht der Krieg gekommen, so mutmaßte Feldenkrais später, hätte seine Erfindung ihn reich machen können. Und Geld hatte er bei allem gesellschaftlichen Erfolg nach wie vor dringend nötig. Gewiss hatte Malka im Mai 1937 eine Anstellung bei Iréne Curie gefunden, wo sie in der Messabteilung des Labors arbeitete. Doch auch wenn sich die Schwester selbst finanzieren konnte, trug Moshé weiterhin die Verantwortung für die Familie in Palästina, wie auch für seine Ehefrau Yona, die noch immer Medizin studierte.

Visum Aufgrund seiner bescheidenen finanziellen Möglichkeiten wurde Moshé nervös, als die französischen Behörden ihn 1937 aufforderten, nach Palästina zu reisen, um danach mit einem neuen Visum nach Frankreich zurückzukehren. Es war Eyrolles, der diese Gefahr mit einem Schreiben an die Behörden abwenden konnte. Wahrscheinlich war Feldenkrais auch deswegen ins Visier der Behörden geraten, weil inzwischen immer mehr Flüchtlinge, vor allem aus Deutschland, nach Paris strömten und sich die allgemeine Stimmung immer stärker gegen alle Fremden zu wenden begann.

In Spanien tobte seit Juli 1936 der Bürgerkrieg. Doch während sich die Volksfrontregierung unter Léon Blum nicht dazu entschließen konnte, der Spanischen Republik zu helfen, zögerte Joliot nicht, seinen persönlichen Beitrag zum erhofften Sieg über den katholischen Faschisten Franco zu leisten: Zusammen mit Paul Langevin experimentierte er mit Sprengstoff, den er der spanischen Armee zur Verfügung stellen wollte. (...) Wenn sich Moshé an den explosiven Experimenten der beiden Forscher auch nicht beteiligt haben mag, so teilte er doch deren politische Ansichten. Seinem Temperament nach war er ohnehin ein Rebell, ein stolzer palästinensischer Arbeiter. Und wenn er auch kein Mitglied der KP war, so sympathisierte Moshé doch durchaus mit der Idee des Kommunismus. (...)

Aber so sehr Moshé auch mit den Kommunisten als vermeintlichen Vorkämpfern einer modernen, humanistischen und von moderner Wissenschaft geprägten Gesellschaft sympathisierte – sein Idol war nicht Stalin, sondern Jigoro Kano. Und als der Begründer des »sanften Wegs« im Mai 1938 plötzlich verstarb, verlor Feldenkrais einen Freund, dessen Persönlichkeit und Lehre seinen Lebensweg weiterhin entscheidend und nachhaltig beeinflussen sollte.

Christian Buckard: »Moshé Feldenkrais. Der Mensch hinter der Methode«. Berlin Verlag, Berlin 2015, 368 S., 24 €

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