Der Nahostkonflikt, das werden Sie, wie ich, schon tausendundeinmal gehört haben, ist die Folge des Siedlungsbaus. Also beschließe ich dieser Tage, da über Israel Raketen fliegen, die Siedlungen zu besuchen, um sie mir mal genauer anzuschauen.
elon moreh Elon Moreh, eine der führenden Siedlungen, liegt in Samaria, wie man es dort nennt. Ich treffe Benny Katzover, den Mann, der die Siedlung gegründet hat. Nablus, Elon Morehs arabische Nachbarstadt, ist einer der wichtigsten Orte in der jüdischen Geschichte, sagt Benny. Hier, zitiert er die Bibel, erschien der Herr dem Abraham und versprach ihm: »Deinem Samen will ich dieses Land geben.«
Während Benny redet, kommt eine Einheit der israelischen Armee vorbei. Unter den Soldaten sind Itai, ein Jude aus Tel Aviv, und Mohammed, ein Beduine aus Galiläa. Itai, der mir anvertraut, dass er ein »Linker« ist, meint, dass Israel sich auf die Grenzen vor dem Sechstagekrieg von 1967 zurückziehen sollte.
»Wenn die armen Palästinenser nicht besetzt wären«, sagt er, »würden sie ihr armes Land entwickeln und wären damit beschäftigt, Geld zu verdienen, statt Juden zu bekämpfen.« Woher er wisse, dass die Palästinenser arm seien, frage ich Itai. »Das sind sie.« Ob er jemals in ihren Städten gewesen sei? »Nein.« Nun, sage ich ihm, sie haben wunderschöne Städte. »Aber mit den israelischen kann man sie nicht vergleichen. Israel ist viel schöner!« Stimmt nicht, werfe ich ein. Palästina ist viel schöner als Israel. »Woher willst du das wissen?« Ich reise oft dort hin, verrate ich ihm. »Wer bist du?« Ein deutscher Journalist, sage ich. »Wow!«
Israelis, vor allem von der Tel Aviver Sorte, lieben deutsche Journalisten. Itai bietet mir als Zeichen seiner Zuneigung Plätzchen an. Wir essen Schokoplätzchen und unterhalten uns. Ob er glaubt, dass Frieden einkehrt, wenn Israel sich zurückzieht, will ich wissen. »Die Araber wollen Frieden. Wir haben keinen Frieden wegen unserer Führer. Aber das Volk will Frieden.«
Ob wir mal Mohammed fragen sollten, was er meint, werfe ich ein. Er ist Araber und weiß besser als wir beide, was die Araber denken. »Schau dir die Araber in Israel an, in Jaffa, Akko oder Haifa«, sagt Mohammed. »Sie wollen alle Juden weghaben. Die Juden haben ihnen die Bezeichnung ›arabische Israelis‹ verpasst, aber sie selbst nennen sich ›Palästinenser‹. Zufrieden werden sie erst sein, wenn die israelische Armee sich auf die Grenzen von vor 1948 zurückzieht!«
Vor 1948? Heißt das Deutschland und Polen, frage ich? »Genau!« Itai, der inzwischen bedauert, dass Mohammed eingeladen wurde, seine Ansichten zum Thema kundzutun, fängt an, sich mit ihm zu streiten. Lustig, das zu beobachten. Aber mich interessieren im Moment Raketen mehr. »Hier schlagen keine ein«, sagt ein anderer Soldat. »Wenn du Raketen sehen willst, musst du ins israelische Kernland, jenseits der Grünen Linie, in den Grenzen von 67. Dort gehen die Raketen runter.«
aschkelon Also begebe ich mich nach Aschkelon in Südisrael. Bei einer Ladenreihe neben einem Einkaufszentrum stehen eine Gruppe von Menschen und eine große Kamera, offenbar in Erwartung von Raketeneinschlägen. Wie jeder Fernsehzuschauer weiß, geben Raketen, die nahe einem Einkaufszentrum einschlagen, tolle Bilder ab. Die TV-Reporter sind gerade aus New York eingetroffen, erzählt mir einer von ihnen. Sie arbeiten für CBS. Sie warten und warten und warten, aber nichts passiert. »Gehen wir essen«, sagt einer schließlich.
Nicht weit vom Einkaufszentrum, am Strand von Aschkelon, wartet ein BBC-Team auf Action. Auch hier passiert nichts. Ich frage die Reporter, warum sie hier am Strand sind und nicht auf dem Schlachtfeld in Gaza, wo sie bestimmt tolle Bilder einfangen könnten. »Spinnst du?«, sagt einer. »Nicht mal Al Dschasira geht dorthin.«
Es ist kurz vor Sonnenuntergang. Keine Raketen in Sicht. Ich besuche eine Familie im Ort. Es ist Freitagabend, alle sitzen am Tisch. Der Mann macht Kiddusch, die Frau verteilt Challe, einige Leute singen Lieder, und alle machen sich über das Schabbatessen her: Fisch, Huhn, Fleisch, gefolgt von Coke Zero und Johnny Walker Black Label. Anschließend unterhalten wir uns über Sehenswürdigkeiten in fernen Ländern, und dann, gerade bevor Kekse und Kuchen serviert werden, für mich das Beste am Schabbat, ertönt eine Sirene, die lauter ist als Gottes Stimme am Berg Sinai.
»Wir haben nur 15 Sekunden«, informieren meine Gastgeber mich, während sie zum Sicherheitsraum hinter der Küche rennen. Die Eltern und Großeltern dieser Menschen rannten vor den Nazis, diese Juden rennen vor der Hamas. Immer und überall, scheint es, müssen Juden um ihr Leben rennen.
Ich schaue auf mein Smartphone. Seit Kurzem schickt die Hamas Massen-SMS an israelische Handys, in denen sie sich brüstet, dass sie die Israelis zwingt, »sich wie Mäuse in Unterschlupfen zu verstecken«. Der Schutzraum hat keine Fenster und keine frische Luft. Ich fühle mich wie in einem Grab. Die Menschen stehen dicht aneinander, tatsächlich wie Mäuse. Ein paar Minuten später geht es lebend zurück an den Tisch. Zeit für Rugelach und Kuchen, für heißen oder Eistee. Doch da ertönt wieder eine Sirene. Die Menschen rennen wieder in den Schutzraum.
vor gaza Am nächsten Tag fahre ich zu einem Hügel, von dem aus man Gaza überblickt. Näher an die Positionen der Hamas kommt man nicht als Zivilist. CNN, CBS und BBC sind nicht da. Dafür gibt es Bomben. Vor mir sehe ich eine Rauchwolke, dann noch eine und noch eine und noch eine. Multiple Explosionen und Bomben unterschiedlicher Lautstärke und Tonlagen vereinen sich zu einem furchterregenden Orchester wie in einem Horrordokumentarfilm.
Auf dem Hügel haben sich schon einige israelische Zivilisten eingefunden. Jedes Mal wenn aus Gaza eine Rakete Richtung Israel abgeschossen wird, rufen sie »Jetzia« – übersetzt »Abgang!« – und greifen zu ihren Smartphones. Auf denen sind Apps installiert, mit denen man binnen einer Minute weiß, wo genau die Rakete eingeschlagen ist.
Von der israelischen Seite hinter meinem Rücken fliegt ein Armeehubschrauber ins Sichtfeld, schießt Raketen ab und fliegt dann mit gefühlter Lichtgeschwindigkeit wieder zurück. Vor mir in Gaza sehe ich eine neue Rauchwolke, das Ergebnis des Luftangriffs. Unmittelbar danach folgen weitere Explosionen, diesmal von israelischen Bodentruppen in Gaza.
»Luft- und Bodenangriffe, alles muss genau koordiniert sein«, erklärt mir ein Israeli. Gut durchdacht von den Israelis. Von denen übrigens nicht alle Juden sind. Einer der höchsten Armeeoffiziere beim Gazaeinsatz ist ein Druse, Oberst Rasan Alian, Kommandeur der Golani-Brigade, einer Eliteeinheit der Streitkräfte. Einer der Israelis erzählt mir derweil einen Witz. »Die Hamas hat endlich einen Erfolg gehabt. Eine ihrer Raketen ist in einem Friedhof eingeschlagen. 800 Tote!«
sderot Ich fahre nach Sderot zu einem anderen Hügel mit Blick auf Gaza. Eine Gruppe Israelis verbringt den Tag dort mit Wodka, Sandwiches und Eis in Behältern. Einer von ihnen kommt zu mir rüber und stellt sich als Dudu vor. »Bist du Journalist?« Ja, antworte ich. »Ich will dir sagen, dass ich sehr traurig bin. Die meisten Menschen in Gaza sind unschuldig.« Woher er das weiß, frage ich. »Ich habe früher, als ich noch ein Junge war, in Gaza gelebt, in Nitsanit. Bevor dieser ganze Ärger zwischen ihnen und uns anfing, besuchten wir uns gegenseitig zum Essen. Es sind gute Menschen, die meisten, und ich hoffe, dass sie heute nicht verletzt werden.«
Was würde geschehen, will ich von Dudu wissen, falls Israel verliert, falls die israelische Armee besiegt wird. »Das wird nie passieren.« Ja, aber lass’ es uns mal annehmen, insistiere ich: Wenn keine Armee zwischen Dudu und den guten, unschuldigen Menschen von Gaza mehr stehen würde. »Was meinst du?« Wenn die Menschen aus Gaza einfach so hier reinmarschiert kämen, erkläre ich: Was würde dann passieren.
»Einfach so hier reinmarschiert?« Genau, entwickele ich mein Szenario weiter. Werden sie dann »Hallo, Dudu wie geht’s«, fragen und ihm kalte Wassermelone anbieten? Oder kommen sie mit Messern, schlachten ihn ab, vergewaltigen seine Frau und schneiden seinen Kindern die Kehlen durch?
Dudu schaut mich an, als ob er nicht sicher ist, dass er richtig gehört hat. Ich wiederhole die Frage, und er antwortet: »Mich abschlachten. Meine Frau vergewaltigen. Und meine Kinder lebendig begraben.« Die guten, friedlichen Menschen aus Gaza?, frage ich. Hatte Dudu nicht eben gesagt … »Vergiss, was ich gesagt habe. Hier, trink einen Wodka!«
Ich brauche eine Auszeit von diesem Chaos. Der sicherste Ort im Nahen Osten dieser Tage ist, scheint’s, Elon Moreh. Vielleicht sollte ich wieder dorthin zurück.
Tuvia Tenenboms neues Buch »Allein unter Juden«, ein Reisebericht aus Israel, erscheint im November bei Suhrkamp.