Die Deutungshoheit über die Französische Revolution ist umstritten. »All unsere Versuche, sie durch machtvolle Aktivitäten bestimmter sozialer Gruppen oder Klassen oder anderer Teile der Gesellschaft zu erklären, sind fehlgeschlagen.« Mit diesen markanten Worten fegt Jonathan Israel die marxistischen wie auch alle anderen gesellschafts- und wirtschaftsgeschichtlichen Deutungen vom Tisch. Er verfolgt einen anderen Ansatz, den er mit Vehemenz, unüberbietbarer Detailkenntnis und plausiblen Erklärungen verfolgt.
Der 1946 geborene Israel ist ein britischer Historiker, der als Spezialist für europäische Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts zuletzt am Institute for Advanced Study der Princeton-Universität tätig war. Sein ideengeschichtliches Hauptwerk Radical Enlightenment bildet die philosophische Grundlage für seinen stringenten neuen Deutungsversuch der Französischen Revolution. Hierfür baut er auf dem seit Jüngstem versuchten soziokulturellen Ansatz auf und integriert Sozial- und Ideengeschichte zu einer eigenen, zu allen bisherigen Lesarten alternativen Erzählung der Ereignisse von 1789 bis 1799.
Freiheit Aber er beginnt Jahrzehnte vor dem Sturm auf die Bastille, bei den Aufklärern der Encyclopédie, bei den französischen Philosophen der Lumières, die alle eine freiheitliche politische Philosophie vertraten, vor allem bei Diderot, Voltaire, Montesquieu und Rousseau.
Die im Vorfeld längst formulierten Ideen von der Gleichheit der Menschen, von dem unveräußerlichen Wert der Freiheit hatten schon die der französischen vorausgegangene amerikanische Revolution mit der Erklärung der Menschenrechte beflügelt. Sie beherrschten die intellektuelle Szene nicht nur in Frankreich, aber hier besonders. Zahllose Flugschriften und Bücher hatten diese Ideenwelt bis 1788 zu einem unter dem marode gewordenen royalistischen Regime zunächst verdeckt, bald immer offener zutage tretenden Mainstream beigetragen, einem gärenden Teig, der – so Israels neuer Ansatz – den Ausbruch und die Entwicklung der Französischen Revolution fast zwangsläufig nach sich zog. Als Hauptakteure benennt Israel denn auch Publizisten und Journalisten, deren immer flammendere Beschwörungen der Ideen von Gleichheit und Freiheit letztlich die Fackel der Revolution entzündeten.
Hierbei traten von Anfang an unterschiedliche Ausprägungen der Aufklärung zutage, unter denen sich die der »Radikalaufklärung« gegenüber den »milderen« am stärksten durchsetzten. Es ist ungeheuer spannend, die Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären Denkern und der vor allem klerikalen und adligen Reaktion, aber auch unter den verschiedenen Strömungen der Revolutionäre selbst zu verfolgen. Ein großes Verdienst dieses monumentalen Buches ist eine Liste von über 150 Biogrammen der Hauptbeteiligten. Sie ermöglicht, die Vielzahl der hierzulande häufig unbekannten Namen auseinanderzuhalten und ihren Beiträgen zum Geschehen zuzuordnen.
Scheitern Um den roten Faden der soziokulturellen, ideengeschichtlich bedeutsamen Entwicklung bis zur und während der Revolution bis zu ihrem »napoleonischen« Scheitern rankt sich, wie zwangsläufig aus den Ideen erwachsend, die Darstellung der innen- und außenpolitischen Ereignisse und der sich dramatisch verändernden sozialen Lage in Paris und in den Provinzen. Das rasche Erwachsenwerden bis zur Erklärung der in ihrer endgültigen Formulierung umstrittenen Menschenrechte und bis zur ersten demokratischen Verfassung der Welt ist in allen Einzelheiten nachzuvollziehen. In den ersten Jahren fand die Revolution ja noch unter dem monarchischen Regime von Louis XVI. statt, bis er umgebracht wurde. Auch diese erste Cohabitation zwischen dem Monarchen und den revolutionären Institutionen ist spannend erzählt.
Die Entmachtung der katholischen Kirche, die Gleichberechtigung der Juden, die Abschaffung von Privilegien, auch der männlichen gegenüber den Frauen, die Emanzipation der Sklaven auf Haiti und auch der Putsch von Robespierre sind vor dem Ideenrelief, das Israel nach wie vor für bestimmend hält, gut nachvollziehbar. Die Dämmerung der aufgeklärten Revolution kam viel zu rasch. »La terreur« dauerte von September 1793 bis etwa Juli 1794 und ist wie ein blutiger Verrat an den seit Sommer 1793 kippenden Kernwerten der Revolution zu verstehen.
Jonathan Israel hat einen einleuchtenden neuen Deutungsansatz für die Französische Revolution entwickelt und diesen in einer glänzenden Synthese von geistesgeschichtlicher Darstellung und historiografischer Genauigkeit erzählt. Er hat damit auch das Erbe dieser Revolution benannt: die Kraft und die Gefahren, die von der Radikalaufklärung ausgehen können.
Jonathan Israel: »Die Französische Revolution. Ideen machen Politik«. Aus dem Englischen von Ulrich Bossier. Reclam, Stuttgart 2017, 990 S., 49 €