Medizin

Promille für die Nerven

Ein »L›chaim!« für die Psyche Foto: Thinkstock

Eynat Cohen hat in ihrem Leben bereits reichlich »Kriegserfahrungen« an der Heimatfront gesammelt. »Als Saddam Hussein 1991 Israel mit seinen Scud-Raketen beschoss, konnte ich es einfach nicht allein zu Hause aushalten«, sagt die heute 50-jährige Grafikerin aus Givataim. Jeden Abend traf sie sich deshalb in diesen schwierigen Tagen mit Freunden zum gemeinsamen Kochen und Essen. »Das Ganze mutierte zu einer Art Wettbewerb, wer die raffiniertesten Gerichte zubereiten und wie man mit Gasmaske einen Wodka Lemon trinken konnte.«

Die Folgen dieser Nächte zeigte anschließend die Waage. »Wir alle hatten damals zwischen drei und sechs Kilo zugenommen.« Aber trotz des mulmigen Gefühls, das sich bei den zahlreichen Luftalarmen immer wieder einstellte, oder der Panik, die alle gelegentlich packte, wurde offensichtlich niemand traumatisiert oder zeigte später psychische Auffälligkeiten. »Ich bin mir ganz sicher, dass wir diese Zeit nur deshalb so unbeschadet überstehen konnten, weil keiner allein gelassen wurde und dank des einen oder anderen Drinks fast immer eine gewisse Partystimmung herrschte.«

Depressionen Cohens Beobachtungen finden nun ihre Bestätigung durch eine aktuelle Studie, die Wissenschaftler der Universität Haifa durchgeführt haben. »Angesichts der aktuellen Bedrohungsszenarien sind viele Israelis großen psychischen Belastungen und Stresssituationen ausgesetzt«, so Professorin Daphna Canetti. »Der ständige Beschuss aus Gaza und oft nur 15 Sekunden Zeit, einen Schutzraum zu finden, das zerrt einfach an den Nerven.« Und trotz des enormen gesellschaftlichen Zusammenhalts, den Israelis dabei immer wieder demonstrieren, kommt es nicht selten zu Spätfolgen, die sich als handfeste Depressionen manifestieren.

Doch dagegen gibt es eine preiswerte Prophylaxe, die rezeptfrei und ab dem Alter von 18 in jedem Supermarkt zu haben ist: Alkohol! Denn die Forscher aus Haifa haben herausgefunden, dass der Konsum von Bier, Wein oder Spirituosen in geselliger Runde weniger anfällig für diese pathologische Form des Trübsals macht.

Gemeinsam mit Kollegen des American National Institute of Mental Health werteten sie dazu die Daten aus, die sie in Befragungen von 1622 jüdischen und bemerkenswerterweise auch muslimischen Israelis beiderlei Geschlechts während der Operation »Gegossenes Blei« im Jahr 2008 gesammelt hatten. Diese wurden dazu interviewt, wie sich der Gaza-Krieg unmittelbar auf ihr Leben auswirkte, ob es Situationen der ganz konkreten Bedrohung oder materielle Verluste gab und inwiefern ihr soziales Umfeld unterstützend einwirken konnte. Und man hakte nach, ob nicht auch das eine oder andere alkoholische Getränk konsumiert wurde.

Dieselben Personen wurden zehn Monate später erneut nach ihrem mentalen Wohlbefinden befragt. Dabei zeigte sich, dass die Israelis, die während der Phase der militärischen Auseinandersetzungen mindestens einmal die Woche in Gesellschaft Bier oder Wein getrunken hatten, im Nachhinein psychisch deutlich stabiler waren und seltener zu Depressionen neigten als diejenigen, die einen enthaltsamen Lebensstil pflegten.

»Eigentlich sollte das Ergebnis nicht überraschen«, erklärt Canetti. »Denn rein statistisch gesehen sind Personen, die Alkohol trinken, eher sozial eingebunden oder aktiv. Es ergeben sich dadurch zahlreiche Möglichkeiten, dass Freunde oder Familie helfend eingreifen können, um Anspannungen besser zu ertragen oder zu kompensieren.« Menschen, die traumatische Erfahrungen machen mussten, neigen oft zum Alkoholkonsum, um diese besser verarbeiten zu können – auch das ist nichts grundlegend Neues. »Was wir aber zum ersten Mal beweisen konnten, ist die positive Wirkung im Kontext von terrorbezogenen Traumata«, fasst Canetti zusammen.

Gesellig »Selbstverständlich sagen wir nicht, dass man nun zur Flasche greifen sollte«, relativiert Jeremy Kane diese Erkenntnis. »Alkoholmissbrauch ist und bleibt eine Gefahr für die Gesundheit«, so der Doktorand von der Johns Hopkins University in Baltimore, der ebenfalls an der Studie beteiligt war. »Aber moderater Konsum könnte auch ein Schlüssel sein, der hilft, seine sozialen Netzwerke zu aktivieren.«

»Wir haben keinerlei Zweifel daran, dass ab einer bestimmten Menge Schluss ist mit dem positiven Auswirkungen«, macht Canetti deutlich. »Deshalb sind auf jeden Fall weitere Untersuchungen notwendig, damit wir wissen, wo genau diese Grenzen liegen und ab wann der Genuss von Alkohol zu schaden anfängt.«

Doch eines haben die Wissenschaftler schon jetzt bewiesen. Es scheint ein Zusammenhang zwischen dem gemäßigten Konsum alkoholhaltiger Getränke und einer verminderten Anfälligkeit für Depressionen zu bestehen, sodass sich auf Basis dieser Erkenntnisse vielleicht neue therapeutische Ansätze entwickeln lassen. Oder anders ausgedrückt: Ein gelegentliches »L›chaim!« in geselliger Runde kann durchaus helfen, schwierige Zeiten unbeschadet für die Psyche zu überstehen.

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