Peter Sloterdijk ist Philosoph und steht im diesjährigen »Cicero«-Ranking der einflussreichsten deutschsprachigen Intellektuellen auf Platz eins. Was der Mann sagt, wird gehört. Zu sagen hat Sloterdijk notorisch viel und zu mannigfaltigen Themen. Jetzt auch zum Antisemitismus.
Der wird, meint der 71-Jährige, ziemlich übertrieben. »Das derzeit in Deutschland beklagte Ansteigen des Antisemitismus« sei purer Alarmismus, erklärte Sloterdijk vor zehn Tagen beim »Pfingstdialog« auf Schloss Seggau in der österreichischen Steiermark. Es handele sich, so der Denker, um »Emotionen, die mit dem eigentlichen Risikopotenzial nichts zu tun« hätten. Er glaube »an diese ganzen Bedrohungen« nicht.
GESPENST Neu ist das nicht und auch nicht sonderlich originell. Immer wenn Juden sagen, dass sie sich bedroht fühlen, melden sich sofort beschwichtigende Stimmen zu Wort, die ihnen begütigend erklären, dass sie, die Juden, mal wieder über die Maßen dramatisieren: Es gebe mehr Alarmismus als Antisemitismus. Ähnlich hört man es auch immer wieder von Wolfgang Benz, der, im Gegensatz zu Sloterdijk, in der Materie sogar wissenschaftlich ausgewiesen ist.
Der Gestus ähnelt dabei dem von Eltern, die ihren kleinen Kindern erklären, dass sich unterm Bett wirklich kein Gespenst versteckt und sie jetzt endlich einschlafen sollen. Rasch ist dann auch der Begriff »jüdische Paranoia« zur Hand.
Rasch ist der Begriff »jüdische Paranoia« zur Hand.
Den Juden bleiben als Gegenargumente nur die Geschichte und die Empirie. Nicht nur wurden sie tatsächlich jahrhundertelang diskriminiert, verfolgt und totgeschlagen. Der Antisemitismus wuchs sich auch bekanntermaßen vor nicht allzu langer Zeit zu einem Ausmaß aus, das sich selbst die extremsten Paranoiker nicht hatten vorstellen können. Nun gilt natürlich in der Geschichte wie an der Börse, dass Entwicklungen der Vergangenheit keine automatische Prognose für zukünftige Ergebnisse ermöglichen.
INSTINKT Andererseits hat die Historie den Juden ein fein entwickeltes Gespür für Gefahren als kulturelle Prägung mitgegeben, das, wenn sie sich nicht von mehr oder minder Wohlmeinenden beschwichtigen ließen, lebensrettend sein konnte. Wenn Juden inzwischen wieder zunehmend Antisemitismus erleben, oft tagtäglich – und sie erleben ihn tatsächlich, sie bilden ihn sich nicht nur ein –, dann verlassen sie sich deshalb lieber auf ihren Instinkt statt auf Ratschläge von Leuten, die, falls es wirklich hart auf hart käme, ohnehin nicht persönlich betroffen wären.
Zumal wenn diese Ratschläge gleich noch mit handfesten Warnungen einhergehen. Sloterdijk mahnte auf Schloss Seggau nämlich auch »Zurückhaltung« an. Wenn behauptet werde, 30 Prozent der Deutschen seien judenfeindlich, habe dies den Charakter einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Ich übersetze das so: Wenn die Juden ständig von Antisemitismus reden, dann wecken sie ihn erst, sind also selbst schuld. Für mich klingt das wie eine Drohung: Maul halten, sonst gibt es Ärger! Aber das ist möglicherweise nur jüdische Paranoia. Ich sollte vielleicht nicht so übertreiben.