Frau Gorelik, haben Sie das Tagebuch der Anne Frank gelesen?
Ja, damals muss ich so etwa 13 Jahre alt gewesen sein. Es hat mich sehr berührt. Und dazu animiert, selbst ein Tagebuch zu schreiben. Anne Frank habe ich übrigens wesentlich lieber gelesen als andere Schullektüre über Hitler und den Holocaust.
Sie haben jetzt das Tagebuch der 16-jährigen Lena Muchina aus der Zeit der Blockade Leningrads 1941 bis 1944 übersetzt. »Lenas Tagebuch« wird mit dem von Anne Frank verglichen. Zu Recht?
Was die Art der Werke betrifft, schon. Beide wurden von literarisch ambitionierten Mädchen geschrieben, während die Menschen um sie herum mit dem Überleben kämpften. Inhaltlich stimmt der Vergleich nicht, denn die Blockade kann man natürlich nicht mit dem Holocaust gleichsetzen.
Sie stammen selbst aus Petersburg, dem ehemaligen Leningrad. Erinnern Sie sich, wann Sie das erste Mal von der Blockade gehört haben?
Nicht genau, aber das Thema war irgendwie immer da. Auf Festen, Familienfeiern, aber auch bei Kleinigkeiten im Alltag kam die Sprache darauf. Die Erzählungen und Schwarz-Weiß-Fotografien haben mich während meiner ganzen Kindheit begleitet. Wenn ich beim Essen mäkelig war und mich weigerte, das Brot aufzuessen, sagte meine Großmutter: »Wir können kein Brot wegschmeißen! Weißt du, wie viel Brot wir während der Blockade bekamen?« Das wusste ich: Die Tagesration lag bei 125 Gramm. Vor allem der Hunger war also ein Synonym für die Blockade, neben Kälte, Angst, Qualen und Tod.
Ging Ihnen das Thema nicht auch mal auf die Nerven?
Nein. Ich wurde der Geschichten nie überdrüssig. Die Blockade war Legende, erfüllte uns mit Stolz und trieb uns zugleich Schauer über den Rücken. Als Petersburger war und ist man sehr stolz darauf, was man geschafft hat. Nämlich: die Deutschen nicht durchzulassen, durchzuhalten, zu überleben. Die Blockade gehört zur Selbstdefinition eines Petersburgers. »Heldenstadt Leningrad« heißt es auch heute noch auf dem Obelisk im Zentrum von Sankt Petersburg. Wir waren Leningrader: Enkelkinder von Helden.
Wann haben Sie das erste Mal von Lena Muchinas Tagebuch gehört?
Im Sommer vergangenen Jahres rief mich die Verlegerin Tanja Graf an und meinte, sie hätte da ein Manuskript, ob ich es lesen wolle? Es sei ziemlich dringend. Da dieses Gespräch an einem Freitagabend stattfand, hielt sich meine Begeisterung zunächst in Grenzen. Als ich aber erfuhr, worum es ging, war ich sofort neugierig. Gleich nach dem Aufstehen am Samstag begann ich mit dem Tagebuch und konnte es nicht aus der Hand legen. Bis zum Abend war ich durch. Und alles war plötzlich wieder da: die Legende, der Hunger, die Helden, der Stolz, der Schauder, das schlechte Gewissen. Aber nun hatte das schlechte Gewissen einen anderen Grund: Es ging nicht ums Brot, sondern darum, dass die Blockade in meiner Erinnerung verblasst war, dass ich vergessen hatte, was meine Familie durchlebt hatte, aus welcher Stadt ich stammte.
Was hat Sie beim Lesen besonders berührt?
Die Ehrlichkeit. Dieses Tagebuch versucht nicht, objektiv Geschichte zu beschreiben oder sie zu erklären. Es sind die Aufzeichnungen eines jungen Mädchens, das von Liebe träumt und von einer glänzenden Zukunft. Ein paar Seiten später geht es nur noch ums blanke Überleben, um Hunger, Hunger, Hunger. Lena verliert alles, alle Menschen, die ihr etwas bedeuten. Und weil das alles eben ein Mädchen, das fast noch ein Kind ist, schreibt, berührt es einen so stark. Mich hat es aufgewühlt, und es ging mir sehr nahe.
Fiel Ihnen die Übersetzung schwer?
Eigentlich nicht, denn gerade am Anfang schreibt Muchina ja sehr amüsant und süß. Später, wenn es um die Bombardierungen geht, arbeitete ich eng mit dem Historiker Gero Fedtke zusammen, mit dem ich das Buch auch übersetzt habe. Ich war mehr für den literarischen Teil zuständig, er für den historischen und kriegstechnischen. Da ich schon immer sehr ungern Kriegsliteratur gelesen und keine Ahnung von Waffen habe, musste Fedtke mir gefühlte hundertmal den Unterschied zwischen Granaten und Bomben erklären. Nun ja, bei Tolstois »Krieg und Frieden« hat mich eigentlich auch nur der Frieden interessiert.
Was kann Lenas Tagebuch heute bewirken?
Ich glaube, dass es zunächst einmal den Bildungshorizont erweitern kann. Die Blockade ist ja in Deutschland nicht sonderlich bekannt. Das Besondere und Wirkungsvolle daran ist aber, dass es eben kein typisches Geschichtsbuch ist. Da steht nicht drüber: Jetzt musst du etwas lernen! Und genau deswegen berührt es mehr. Selbst wenn man sich nicht für Leningrad, Russland oder den Zweiten Weltkrieg interessiert, gibt es diese beeindruckende Geschichte von einem Mädchen, das einen Krieg erlebt. Alle sollten es lesen, die nicht wissen, was es hieß, die Blockade zu überleben. Die jeden Tag Brot essen, so viel sie wollen, und die ihre Bonbons nicht auf mehrere Tage aufteilen müssen, so wie Lena Muchina und wahrscheinlich auch meine Großmutter.
Das Gespräch führte Günter Keil.
Lena Muchina: »Lenas Tagebuch«. Aus dem Russischen von Lena Gorelik und Gero Fedtke. Graf, München 2013, 384 S., 18 €