Was stellt ein deutscher Gastdozent an der Bezalel Academy of Arts and Design auf seinen Lehrplan? Der Hamburger Zeichner Felix Scheinberger, der im Semester 2009/2010 an der renommierten Jerusalemer Kunstschule einen Illustrationskurs gab, wählte als Thema Märchen der Gebrüder Grimm. Was in dem Kurs entstand, ist jetzt in einer Ausstellung im Hamburger »Künstlerhaus eins eins« zu sehen sowie in einem Buch, »Märchenland – Die Gebrüder Grimm in Israel«, erschienen im Berliner Verlag J. Frank.
Der Zulauf zu dem Kurs war enorm. »Es gibt gerade unter jungen Israelis ein großes und anhaltendes Interesse an Deutschland, was natürlich mit der gemeinsamen Geschichte und mit der Schoa zusammenhängt«, erklärt sich Scheinberger das Interesse der Studierenden. »Und die Gebrüder Grimm sind schon so etwas wie ein Aushängeschild für deutsche Literatur, auch wenn viele nur zwei, drei Märchen kannten – und dann meist die Klassiker wie Rotkäppchen.«
archetypen Was Scheinberger grundsätzlich interessierte, war, ob und wie die in den Grimmschen Märchen enthaltenen Archetypen von Verlust, Ohnmacht, aber auch vom Aufbäumen gegen das Schicksal aktuell noch ihre Wirkung entfalten können: »Riesen gibt es bekanntermaßen nicht – aber damit stellt sich die Frage, wie Kraft und Macht heute symbolisiert werden können, etwa mittels eines Panzers. Und wenn es um das immer wieder bei den Grimms auftretende Motiv der Prinzessin geht, die gegen ihren Willen verheiratet werden soll, dann kann die Prinzessin durchaus eine Burka tragen.«
So lässt Ron Zalman die vergnügungssüchtigen Töchter des Königs aus Die zertanzten Schuhe im Sammeltaxi zur nächtlichen Party anreisen. Simone Meron macht aus dem Hahn, der in Vom Tod des Hühnchens sein Huhn nicht zu retten vermag, einen Bier trinkenden Punk mit Irokesenschnitt. Hintersinnig geraten ist Ella Cohens Bebilderung des Märchens Das Totenhemdchen: Bei ihr rauben nicht, wie in der Grimmschen Vorlage, die allabendlichen Tränen der Mutter dem verstorbenen Kind den Schlaf – die überfürsorgliche Mutter kann stattdessen einfach nicht aufhören, dem Kind ständig weiteres Essen aufzudrängen. Generell fällt auf, dass die jungen israelischen Zeichner leise Töne bevorzugen und nur sehr gelegentlich zu plakativen Bildelementen greifen. Dann aber trägt das Böse bei ihnen schon mal einen Sprengstoffgürtel.
Eine Erfahrung, die Scheinberger aus Israel mitgebracht hat, ist, dass dort Illustration völlig anders unterrichtet werden muss als in Deutschland – aus Gründen der Politik. »Ich bin ein Freund davon, zum Zeichnen die Universitätsräume zu verlassen und vor die Tür zu gehen. Aber so etwas ist in Jerusalem nicht vorgesehen, was natürlich an der besonderen Situation dieser Stadt liegt. Jüdische Studenten gehen selten in den Ostteil der Stadt, auch weil es gefährlich ist. Wir haben dennoch viele zeichnerische Exkursionen
unternommen – so weit das sicherheitstechnisch ging.«
»Märchenland – Die Gebrüder Grimm in Israel«. Bis 3. Mai im Künstlerhaus eins eins, Hamburg. Das gleichnamige Buch zur Ausstellung ist im Verlagshaus J. Frank, Berlin, erschienen. (100 S., 24,90 €)
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