Gibt es in Bezug auf die Schoa einen neuen »Historikerstreit«? Die Frage ist teilweise irreführend, suggeriert sie doch eine rein akademische Debatte. Doch die israelfeindliche und antisemitische BDS-Bewegung etwa hat längst Sympathisanten jenseits der universitären Strukturen. Davon zeugte Ende 2020 auch die verquaste »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit«, in der zahlreiche hiesige Kulturinstitutionen wortreich den Beschluss des Bundestages, Veranstaltungen von BDS sowie Unterstützern nicht mit deutschen Steuerzahlermitteln zu subventionieren, als »Zensur« anklagten.
Die Attacke auf die Erinnerungspolitik, im Mai 2021 von dem australischen Genozidforscher Dirk Moses geritten, passt in dieses Bild: verschwörungstheoretisches Geraune und purer Hass, wie man es bis dato eher aus dem »Schluss mit dem Schuldkult«-Lager der Höcke-AfD kannte. Das institutionalisierte Erinnern an die Schoa sei, so Moses, in der Hand von »Hohepriestern«, die dem Volk einen »Katechismus« aufzwingen würden, um das nationale Gedächtnis in ein »Erlösungsnarrativ« zu zwingen. So weit, so widerlich.
ANALYSE Ein unlängst unter dem Titel Ein Verbrechen ohne Namen – Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust erschienener Sammelband belässt es freilich nicht bei der luziden Zurückweisung dieser Anschuldigungen und Insinuationen, sondern analysiert den Zusammenhang.
Wenn nämlich die Schoa, wie von Dirk Moses und seinen zahlreichen Adepten behauptet, lediglich ein »Genozid unter anderen« gewesen sei und in der Nachfolge deutscher Kolonialverbrechen stünde, grüßt Ernst Nolte nicht nur aus der Ferne. Eine »nahezu identische Argumentationsfigur« sieht der Historiker Dan Diner hier erneut auftauchen, hatte doch bereits 1986 Nolte in der »FAZ« in vorgeblicher Neutralität gefragt, was wohl »ursprünglicher« sei, »der Klassenmord der Bolschewiki oder der Rassenmord der Nationalsozialisten«.
Bei der Schoa ging es nicht um Ausbeutung, Diskriminierung, Landgewinn oder militärische Vorherrschaft.
Irre Ironie der Debattengeschichte: Während damals viele selbst erklärte Progressive die notwendige Zurückweisung der Nolte’schen Spekulationen sogleich dafür missbrauchten, die (nicht zuletzt von jüdischen Intellektuellen von Arthur Koestler über Manès Sperber bis Hannah Arendt frühzeitig thematisierten) Massenverbrechen des Stalinismus nun ihrerseits zu relativieren, so spendet ebenjenes Juste Milieu der heutigen »Neuinterpretation« des Holocaust umso entschiedener Beifall.
Denn für sie, modisch »antizionistisch« geeicht, ist der rhetorische Kollateralnutzen doch enorm: Wenn der nationalsozialistische Völkermord an den europäischen Juden lediglich in der Tradition von Kolonialverbrechen steht, wird es dann auch einfacher, auch das heutige Israel des »Kolonialismus« zu zeihen. Klingt abstrus, ist allerdings in vielen der »Postcolonial Studies« – in denen die Diskurs-Multiplikatoren von morgen ausgebildet werden – schon längst feste Lehrmeinung.
FAKTEN Die Autoren des Sammelbandes antworten indessen darauf nicht etwa mit Gegenpolemik, sondern setzen – von Jürgen Habermas und dem Holocaust-Forscher Saul Friedländer über Sybille Steinbacher, die Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts, bis zum Historiker Norbert Frei – den Zuschreibungen all jene Fakten entgegen, die doch eigentlich bekannt sein sollten und nun dennoch erneut ins Gedächtnis gerufen werden müssen.
Alle fünf Autoren sehen in der Blickerweiterung auf Kolonialverbrechen etwas Positives.
Denn nein, bei der Schoa ging es nicht zuvörderst um Ausbeutung, Diskriminierung, Landgewinn oder militärische Vorherrschaft. Als der penibel umgesetzte Plan, ein ganzes Volk vollständig auszulöschen und dabei (worauf Habermas hinweist) nicht etwa einen äußeren, sondern einen als »inneren Feind« Deklarierten zu vernichten, auf dass endlich nationale Erlösung sei, ist das Menschheitsverbrechen tatsächlich singulär.
Dan Diner betont: »Angesichts ubiquitär gültiger, kategorisch als gewiss geltender Annahmen über menschliches Verhalten – auch solche der niedersten Instinkte – handelte es sich beim Holocaust um einen durch und durch grundlosen, um einen schier gegenrationalen Tod.«
blickerweiterung Ebenso wichtig: Alle fünf Autoren sehen in der gegenwärtigen Blickerweiterung auf die deutschen und europäischen Kolonialverbrechen etwas Positives, werten deren zahllose Opfer mitnichten als quasi »zweitrangig« ab – und wenden sich gerade deshalb gegen die Infamie, diese allzu lange Vergessenen nun aufzurechnen gegen die in der Schoa Ermordeten.
»Das Leiden jedes einzelnen Menschen ist unvergleichlich«, schreibt Saul Friedländer und erinnert an die Massenmorde an Tutsi, Armeniern, Hereros, Kongolesen, Kambodschanern, Sinti und Roma, Homosexuellen, an sowjetische Gefangene im NS-beherrschten Europa und an die Opfer des Stalinismus. »Der Unterschied liegt im historischen Kontext des Genozids. In diesem Sinne – und nur in diesem – ist der Holocaust besonders und tatsächlich präzedenzlos.«
Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher und Dan Diner: »Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust«. C.H. Beck, München 2022, 94 S., 12 €